Noir
warfen ihr neugierige Blicke zu, immerhin sah man ein solches Auto selten – noch dazu mit einer so jungen Fahrerin.
«Ich wollte, dass alle mich sehen können, wenn du kommst», sagte sie, «und mich küsst.»
Er nahm behutsam die Zigarette aus ihrer Hand und inhalierte den letzten Zug, ehe er sie zertrat. «Irgendwann musst du nicht mehr rauchen.»
Sie zog seinen Mund an ihren und atmete den Rauch ein, den er ausatmete.
«Sei in mir.» Sie öffnete die Autotür und ließ sich auf die Rückbank sinken. Jeder hätte sie sehen können. Aber niemand sah sie.
Gegen Abend passierten sie die französische Grenze. Sie fuhren, bis sie ein schäbiges Business-Hotel fanden. Eine doppelspurige Straße schleuste selbst zu dieser Uhrzeit noch Autos ohne Unterbrechung daran vorbei. Noir parkte den Wagen am Straßenrand und ließ Nino draußen warten, während sie ins Hotel lief und einen Schlüssel stahl. Als die Empfangsdame gerade mit einem anderen Gast beschäftigt war, stiegen sie in den dritten Stock, wo ihr Zimmer war.
Abgesehen davon, dass es nicht beheizt war, schien alles für sie vorbereitet: Das Bett war gemacht, kleine Seifenstückchen lagen neben dem Waschbecken und auf jedem Kissen ein klebriges altes Fruchtbonbon. Nino drehte die Heizung auf, half Noir aus ihren Schuhen und ihrer Kleidung und wickelte sie in die Decke. Dann holte er seine Überraschung aus der Tankstellentüte: Nagellackentferner. Er hatte ihn heimlich gekauft, als sie schon draußen gewesen war. Jetzt tränkte er Bausche von Klopapier mit der scharf riechenden Flüssigkeit und rieb die schwarze Farbe von Noirs Fingernägeln. Tränen rollten in die Lachfältchen um ihre Augen.
«Hast du das schon mal versucht?», fragte er, während er ihre Nägel unter dem Schwarz freilegte.
Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf.
«Nein? Da siehst du mal. Es gibt tolle Produkte. Hier, Nagellackentferner von
Silk Cosmetics
. Mit Mandelduft. Stinkt.»
Sie kicherte.
Als ihre Nägel nackt waren, küsste er jede einzelne Fingerspitze und legte sich zu ihr unter die Decke. Ihr Schoß und ihre Hände strahlten pochende Hitze aus, doch ihr Kopf war kühl wie Metall. Er streichelte sie, bis sich die Wärme gleichmäßig verteilte.
Kurz vor dem Einschlafen begann sie zu wimmern. Erst dachte er, sie sei bereits in Albträumen versunken, aber ihre Augen standen offen. Der Atem, den sie rasselnd und bibbernd ausstieß, war so kalt, dass er eine Gänsehaut im Nacken bekam.
Er knipste das Licht an. Sie ballte die Fäuste vor der Brust. Als er ihre Hände nahm, sah er, dass die Fingernägel blau angelaufen waren. Sie fror. Sie
erfror
.
Fluchend rieb er ihre Finger, küsste und drückte sie, aber es half nichts. Womöglich war der Nagellack ihre letzte Verbindung zu Jean Orin gewesen, ihre Identität, und er hatte sie in seinem Leichtsinn, in seiner Dummheit, in seiner Selbstüberschätzung einfach weggewischt.
«Noir … es tut mir leid. Bleib …» Er versuchte ihre Arme und Beine unter sich zusammenzufalten, um sie überall warm zu halten. Irgendwie gelang es ihm, in sie einzudringen. Es tat weh, als würde er sich in einen Gletscher legen.
Ihre Glieder erschlafften, doch wärmer wurde sie nicht. Schließlich brach er ab, wischte sich die Tränen aus den Augen und starrte sie verzweifelt an. Sie schien seinen Blick nicht wirklich zu erwidern; dafür war sie schon zu fern. Zwanzig Jahre. Was hatte er sich dabei gedacht, zwanzig Jahre Liebe von Jean Orin einfach durch seine zu ersetzen? Dummer Stolz! Sie gehörte Jean Orin mehr als ihm.
«Warte …» Er deckte Noir gut zu, schlüpfte so schnell er konnte in Jeans und Schuhe, schnappte sich die Schlüssel und lief nach draußen.
Der Maserati begrüßte ihn mit einem Blinken, als er den Knopf drückte. Er durchsuchte das Handschuhfach, konnte aber nichts finden. Im Kofferraum schließlich entdeckte er einen schwarzen Arztkoffer mit Zahlenschloss. Das musste er sein.
An der Bordsteinkante zertrümmerte er den Verschluss. Er zerrte den Koffer auf – darin lagen zwei Reihen von jeweils zehn Spritzen in samtenen Vertiefungen, angefüllt mit einer milchigen Flüssigkeit. Darunter, auf dem Boden des Koffers, war ein braunes Papierpaket. Er riss eine Ecke auf und fühlte weißes Kristallpulver zwischen den Fingerspitzen.
Eilig drückte er den Koffer wieder zu, schloss den Wagen ab und lief ins Hotel zurück. Zum Glück konnte er die Tür mit dem Zimmerschlüssel öffnen, ohne jemanden von der Rezeption
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