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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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wachklingeln zu müssen.
    Als er das Hotelzimmer betrat, fürchtete er für einen schrecklichen Moment, Noir könnte verschwunden sein. Aber er sah einen zitternden Umriss unter der Bettdecke und hörte ihre klappernden Zähne.
    «Ich bin da. Ich bin da.» Er kniete sich neben das Bett, nahm das Paket aus dem Koffer und schniefte direkt aus der abgerissenen Ecke so viel STYX , wie er konnte. Ihm war, als würde ein Draht durch seine Schläfen gestochen. Statt Schmerz rieselte wohlige Taubheit auf ihn nieder. Sein Kopf klappte in den Nacken.
    Er zog die Nase hoch und schluckte den aspirinartigen Geschmack am Gaumen hinunter. Dann kroch er zu Noir unter die Decke.
    «Ich bin da», sagte er oder dachte es. Ich bin da. Ganz da. Bei dir.
    Alles verschwand im Nichts. Sogar die Angst um Noir. Irgendwann spürte er, wie sich ihre Finger um seinen Oberarm schlossen, aber auch die Erleichterung durchzuckte den Wattehimmel nur flüchtig.
    «Danke.» Ihre Tränen rutschten warm an seinen Wangen ins Kissen.
     
    Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen, aber das machte nichts. Das STYX blendete Müdigkeit, Erschöpfung und sogar Langeweile aus, sodass er zufrieden war, mit geschlossenen Augen dazuliegen, sie zu halten und nach den Bildern ihrer Träume zu lauschen.
    Eine
rege Phantasie
hatten sie es genannt, als sie noch ein Kind gewesen war. Freunde hatte sie gehabt, die niemand außer ihr wahrnahm. Und sie hatte Dinge gewusst, die niemand sonst wusste. Dass ihr Hund Mordlust verspürte, wenn er Kinderfüßen hinterher sah. Dass ihre Großmutter stürzen und danach nicht wieder heimkommen würde. Dass die Birke neben dem Haus vom Blitz getroffen und auf die Veranda stürzen würde. Dass es aussichtslos war, daran etwas ändern zu wollen, denn die Dinge folgten unsichtbaren Bahnen, ganz gleich, was man tat. Das alles wusste sie. Auch als sie älter wurde, stand das Wissen, das sie mit niemandem teilen konnte, zwischen ihr und den anderen Menschen wie eine Glasscheibe.
    Und dann, an einem wetterlosen Tag irgendwann zwischen November und Februar, besucht sie ihre Mutter in der Klinik. Ihre Mutter, dieser eingefallene, klapperdürre Körper im Jogginganzug. Sie riecht auch jetzt noch faulig süß, als hätten ihre Poren sich über die Jahre mit Alkohol angefüllt und würden ihn müde auskeuchen. Ihre Augen sind riesig und faltig im zusammengeschrumpften Gesicht wie aufgeschnittene Datteln. Der Vater will sie nicht besuchen. Sie ist die einzige Besucherin der alten Frau.
    Im Raucherzimmer sitzt die Mutter und raucht die langen, schlanken Zigaretten, die einmal so elegant gewesen sind an dieser einstmals eleganten Frau. Sie raucht und raucht und hustet erschöpft. Ihre Tochter sitzt dabei und nimmt ein Bad in Scham und Mitleid.
    Ein Mann kommt herein, aber noch bevor er das Raucherzimmer betritt, spürt sie sein Kommen. Elektrisiert sieht sie sich um. Da steht er. Ein junger Mann. Sein Körper gedrungen, der Schädel breit, die Augenbrauen struppig. Aber die Augen darunter! So groß und unerbittlich in ihrer unverhüllten Traurigkeit.
    Er stellt sich in die Ecke und raucht Zigaretten, die filigraner gedreht sind, als man seinen klobigen Händen je zutrauen würde. Als er ihren Blick spürt, fängt er ihn mit seinem ein. Er lässt ihn nicht los. Sie sehen sich an. Sie erkennen sich.
    Er lächelt nicht. Er weiß, dass es ihn noch hässlicher macht. So nickt er nur. Sie spürt ein Kitzeln in sich, eine Ahnung, so nah an Verliebtheit, dass man es fast damit verwechseln könnte.
    Als die Mutter im Fernsehzimmer ist, holt sie Tee von der Maschine. Dort beginnen sie miteinander zu sprechen. Warum er hier sei. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, dafür fühlt ihr Zusammensein sich zu vertraut an. Er sagt, er werde verfolgt. Mächtige Leute wollen ihn töten. Aber niemand glaubt ihm das hier, natürlich nicht. Er ist auf der Flucht, er versteckt sich hier bloß. Sobald er einen Weg gefunden hat, sich gegen die mächtigen Leute zu verteidigen, wird er abhauen. So viel versteht sie.
    Wie heißt du?, fragt sie.
    Wie intensiv er sie ansieht. Seine Augen sind Malströme für ein ungeliebtes Mädchen. Er sagt: Jean. Und du heißt?
    Und sie sagt:
    Ich heiße:
     
    Bilderblitze verzerrten die Dunkelheit vor seinem inneren Auge, deren Zusammenhang das STYX mit gleißenden Scheren zerschnitt. Noirs Träume waren so klar wie nie zuvor, aber er war zu wach, um ihnen folgen zu können. Verfluchtes Zeug. Zugleich wusste er, dass Noir ohne das STYX verloren

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