Noir
die Befehle erteilte, seine unerträgliche Leere unter den trägen Lidern. Die Fleischigkeit von Lippen, Händen, Ohrläppchen. Die Haare an seinem Bauch –
Die langen Haare, die sie sich abgeschnitten hatte. Mit einer Papierschere, als sie nach Hause fahren durfte. Vor dem Spiegel ihres Kinderzimmers, in dem sie gespielt und einsam geweint und als Kind mit Freundinnen übernachtet hatte. Jetzt schnitt sie sich die Haare ab. Strähnen wie weggepustete Luftschlangen auf dem Boden. Eigentlich wollte sie sich von ganz anderen Dingen befreien, aber alles, wovon sie sich eigenmächtig trennen konnte, waren ihre Haare, die sie seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte wachsen lassen.
Mit sechs Jahren hatte sie noch nicht gewusst, dass sie ein bisschen verrückt war. Mit sechs Jahren wusste sie noch nicht, dass es so etwas gab wie Sucht.
Es waren nur zwanzig Minuten verstrichen, als sie wieder erwachten. Nino taten die Knochen und Muskeln weh von der unbequemen Position, außerdem hatte er eine volle Blase. Noir krabbelte zuerst aus dem Auto, dann stellte er sich an einen Baum. Sie hielt ihn mit ihren kühlen Fingern, als er pinkelte, und kicherte verhalten.
Dann setzten sie sich aufs Autoheck, das Nino mit einem Lappen aus dem Kofferraum trocknete, und genossen eine Weile die Stille des Waldes. Jetzt, wo die Wirkung des STYX verflogen war, fühlte Nino sich so verloren und allein, dass es fast körperlich wehtat. Der Akku seines Handys war leer, und er stellte sich vor, wie Katjuscha immer wieder anrief und nicht mal ein Wartezeichen hörte. So ging also alles zu Ende. Es hätte besser kommen können.
Nachdenklich wog er das Handy in der Hand. Als es ihm aus den Fingern glitt, bückte er sich nicht, um es aufzuheben. Nur ein kleiner Windhauch, dann würde es unter dem Laub verschwinden, und vielleicht würde man es erst in vielen Jahren wiederfinden, wenn das Modell längst veraltet und auch für den Rest der Menschheit so wertlos geworden war wie für ihn.
Noir musste wohl ebenfalls an die Liebe denken, die sie verloren hatte, jedenfalls fühlte sich ihr Schweigen danach an.
Jean Orin. Hass umwucherte diesen Namen in Nino. Er ertrug Noirs Sehnsucht nur, indem er sich immer wieder sagte, dass sie Jean Orin nicht geliebt, sondern gebraucht hatte. Er legte einen Arm um ihre Schultern.
«Wir schaffen es. Ohne Mentoren und irgendwelche Transplantationen. Die Liebe, die ich dir gebe, ist nur der Zünder. Du heilst dich, indem du dich in deinen Träumen findest.»
Lange atmete sie tief ein und aus, auf der Suche nach Worten. «Vielleicht», murmelte sie schließlich. «Ich weiß nicht. Kann man wieder werden, wer man einmal war? Ich weiß nicht, ob man die Zeit ungeschehen machen kann.»
Er zog sie zu sich und küsste ihre Stirn. «Die Zeit mit ihm ist nie geschehen. Du musst nur wieder aufwachen.»
Sie fuhren durch Ortschaften, deren Namen niemand außer ihren Bewohnern kannte. Bauernhöfe. Eine Zuckerrübenfabrik. Die Landschaft bestand aus weiten Wiesen, Wäldern und Windrädern. Schließlich kehrten sie auf die Autobahn zurück, glitten umgeben von anderen Autos wie Inseln auf den Betonströmen Richtung Südwesten.
«Ich bin in einem großen Haus aufgewachsen», sagte Noir irgendwann, den Blick auf die Straße vor sich gerichtet. «Es war sehr still, die Schritte von Teppich gedämpft. Vielleicht steht das Haus in Frankreich. Er kommt aus Paris. Und er hat mich Noir genannt.»
«Dann fahren wir dorthin.» Nino dachte nach. «Weißt du, wieso er dich Noir nennt?»
«Wegen meiner Fingernägel.» Sie löste ihre rechte Hand vom Steuer und gab sie ihm. Er streifte den Handschuh ab. Ihre Fingernägel waren kurzgekaut und schwarz lackiert. «Ich hatte diesen Nagellack schon immer. Er geht nicht weg.»
«Amor heißt wegen seiner Tätowierung so. Und der dritte Geist, Schnee? Wo kommt sein Name her?»
«Als er ein Geist wurde, wurden seine Haare weiß. Über Nacht. Die letzte Veränderung, die er erlebt hat.»
Sie deckten sich an der nächsten Tankstelle mit Getränken und Essen ein und tankten wieder. Diesmal gelang es Noir, sich an der Kassenschlange vorbeizuschleichen, hinter den Tresen zu schlüpfen und zwei Hundert-Euro-Scheine und drei Fünfzig-Euro-Scheine herauszuziehen, als der Kassierer die Kasse öffnete. Sie gab Nino das Geld und ging schon einmal zum Auto zurück, weil sie ständig angerempelt wurde und sich buchstäblich verbrannte. Als er rauskam, lehnte sie am Wagen und rauchte eine Zigarette. Leute
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