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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ist, nicht er.
    « 53  Euro und 89  Cent, bitte.»
    Die Frau zückte ein Portemonnaie aus moosgrünem Fleece und bezahlte, während ihr Mann die Tüte nahm und eifrig philosophierend mit dem Kind nach draußen spazierte. Und Nino dachte, ohne zu wissen, woher dieser Gedanke kam: Ihr liegt beide falsch. Die Seele ist weder im Herzen, noch ist sie unsichtbar. Sie
macht
uns erst sichtbar.
    Die Frau verließ den Laden und holte ihre Familie ein. Sie gingen zu dritt davon, das Kind in ihrer Mitte, und er wusste kaum, was schlimmer war: dass Menschen so glücklich wirken konnten, wenn sie todtraurig waren, oder dass sie einfach damit leben konnten, Verständnislosigkeit und Verachtung füreinander zu empfinden.
    Er kehrte zu den Aquarellsets zurück und fuhr fort, sie mit dem Preis zu bekleben und in die vorgesehene Schublade zu schieben. Studenten würden sie wieder herausziehen, gelegentlich Hobbymaler, um in endlos vielen Stunden unzählige Bilder zu produzieren, die die Welt nicht brauchte. Aber das deprimierte ihn nicht mehr. Die Arbeit in Olga Pegelowas Kunstwarenladen hatte inzwischen so etwas wie eine therapeutische Wirkung auf ihn. Es war eine Beschäftigungstherapie, für die er bezahlt wurde. Außerdem sah er hier immer die Kunststudenten, die ihr Material besorgten, und wurde daran erinnert, wie gut die Entscheidung gewesen war, nicht mehr einer von ihnen zu sein. Einer dieser aufgesetzt deprimierten Narzissten mit ihrer Obsession für Einzigartigkeit und ihrer unschuldigen Blindheit dafür, dass ihr falls überhaupt vorhandenes Talent völlig belanglos war … Er stopfte die letzten Aquarellsets in den Schuber, zertrat den leeren Karton und trug ihn zurück ins Lager, um ihn zu entsorgen. Eigentlich hatte er gar nichts gegen Kunststudenten. Seine Abscheu war wohl eine ähnliche wie die der Lehrerin, die ihren Mann nicht mehr ausstehen konnte. Irgendwie war das, was er am meisten gemocht hatte, verfault. Vielleicht war aber auch nur er verbittert. Alt geworden. Bis zu seinem Geburtstag noch zwei Tage. Und dann, wie viele Tage dann …
    Als er aus dem Lager zurückkam, hörte er ein Fingerschnipsen.
    «Nino.» Olga Pegelowa stand an der Kasse, die mit Goldschmuck behängte Fülle ihres Oberkörpers herausfordernd nach vorne gebeugt und das dick geschminkte Taubenköpfchen in den Nacken gelegt, um ihn von oben herab mustern zu können. Sie blähte die Nasenflügel beim Ausatmen. Nino stellte sich neben sie. Ein paar Sekunden standen sie schweigend hinter der Kasse und zählten die Köpfe zwischen den Regalen. Es befanden sich immer ein paar Kunden im Laden, was nicht nur an der Nähe zur Universität lag, sondern auch an Pegelowas außerordentlichem Geschäftssinn. Was den und ihre äußere Erscheinung betraf, hätte sie statt mit Kunstbedarf auch mit osteuropäischen Mädchen handeln können. In gewisser Weise hatte sie das sogar, mit sich selbst nämlich, indem sie sich in den vergangenen dreißig Jahren ganze viermal verheiratet hatte und profitabel wieder scheiden lassen. Heute besaß sie drei Kunstwarenläden und mehrere Immobilien in Charlottenburg. Und noch immer den Aufsteigerehrgeiz einer Immigrantin.
    «Die Familie», sagte sie vertraulich auf Russisch zu ihm, «was hat sie gerade ausgegeben?»
    Er erinnerte sich nicht besonders gut an Zahlen, beeilte sich aber um eine rasche Antwort. «Ich glaube, es waren um die …»
    «Hier.» Sie schob den aus dem Mülleimer gefischten und wieder glattgestrichenen Kassenzettel vor ihn und drückte ihren kupferbraunen Fingernagel auf die Endsumme.
    «Wie lange hast du sie beraten?», fragte sie auf Deutsch, damit er sie auch wirklich verstand. «Für ihren Sohn! Ein Wunderkind, nein? Wieso dann gibst du nicht Ölfarben statt Plaka? Hm?» Sie deutete auf das Regal mit den teuren Ölfarben. «Du empfiehlst das Beste für den Sohn! Wäre leicht gewesen!»
    «Entschuldigung», sagte er versöhnlich auf Russisch. Er konnte die Sprache trotz Katjuschas Bemühungen zwar kaum noch sprechen und nur halbwegs verstehen, aber er erzielte damit unverzichtbare Sympathiepunkte bei seiner Arbeitgeberin. Immerhin hatte er Katjuschas alten Nebenjob nur übernehmen dürfen, weil er wie sie Halbrusse war und mit vertraulicheren Aufgaben beehrt werden konnte, zum Beispiel die Ballettkostüme von Pegelowas Enkelinnen zur Reinigung bringen, ihr Meerschweinchen zum Tierarzt oder die beiden kleinen Rotznasen selbst ins Kino.
    «Verkaufen, Junge!», zischte Pegelowa auf Russisch.

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