Noir
das Geld, das sie über den Tag erbeutet hatten. Ein telefonierender Mann trat in einen Hundehaufen. Die Hundebesitzer am Straßenrand prosteten sich mit Bierflaschen zu.
An der Bushaltestelle saß ein älterer Herr mit gewelltem grauem Haar, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt und den Kopf zurückgelegt, als würde er ein Bad nehmen. Er schien seinem Tod sehr nah. Allerdings war es schwer, die genauen Umstände zu erfahren, da er keinen Blickkontakt mit ihm hatte und so viele Menschen vorbeiliefen, dass all ihre Bilder miteinander verwischten.
Als ein Doppeldeckerbus kam, stieg er ein. Doppeldecker gehörten zu den Fahrzeugen, die er ohne Probleme betreten konnte. Sie waren groß und geräumig. Er setzte sich ganz oben vor das Fenster, stellte die Füße auf die Ablage und beobachtete, wie die Stadt hinter der blassen Reflexion seines Gesichts vorüberzog.
Am Straßenrand stand ein verschlungenes Paar. Es sah aus, als würden sie zwischen ihren Küssen Tränen vom Gesicht des anderen wischen. Nino drehte sich nach ihnen um, doch der Bus bog nach links ab.
Klopfenden Herzens ließ er sich in den Sitz zurücksinken. Er hatte nie eine Frau geliebt, auf diese Art, die einen an Unsterblichkeit glauben lässt. Er würde sterben, ohne geliebt zu haben.
Fast ärgerlich schüttelte er den Gedanken wieder ab. Die meisten Menschen schafften es nie, sich in diese schöne Illusion hineinzusteigern.
Den Rest der Fahrt sah er nichts mehr als seine Reflexion.
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JETZT
Die Geschichte von ihm, der du nicht mehr bist, entfaltet sich vor dir wie eine Rosenknospe; aufklaffende Blütenblätter, die sich alle gleichen und so verschlungen sind, dass man nie weiß, welches nun welches umarmt.
Du hast das Bedürfnis, sie auszureißen. Vergessen, einfach vergessen, was jemals passiert ist, bevor Noir kam, und mit ihr das Träumen. Die Namen der Menschen. Sie bedeuten nichts. Aber du musst die Erinnerung mit dir tragen, weil sie Puzzlestücke eines Bildes sind, das am Ende deinen Tod ergibt.
Am Bahnhof wird gestreikt. Ihr wollt Wasserflaschen und abgepackte Sandwiches kaufen. Während du den Kiosk betrittst, zieht sie ein Päckchen Zigaretten hervor und zündet eine an. Schlagartig hören die Rempeleien der vorbeieilenden Passanten auf. Du weißt, wie sie sich jetzt fühlt. Sie spürt die Aufmerksamkeit der Leute ringsum mit fast physischer Kraft auf sich niederprasseln. Blicke wie Hagelkörner. Es bereitet ihr immer noch ein gewisses Unbehagen, bemerkt zu werden. Es kommt ihr wie ein Angriff auf ihre Substanz vor, ein unrechtmäßiges Besitzergreifen. Du möchtest sie beschützen, aber das darfst du nicht – es ist im Gegenteil deine Pflicht, ihr zurück ins Leben zu helfen, auch wenn das Leben letztlich tödlich ist.
Vor dir in der Schlange stehen zwei Rucksacktouristen und sortieren Euromünzen und Dollar in einem Geldbeutel.
Du kannst nicht mehr sagen, welche Ereignisse wichtig waren und welche belanglos. Es sind zu viele Dinge geschehen, die zu sehr zusammenhängen, als dass sie bedeutungslos sein könnten, die aber zu verwirrend sind, um einen Zusammenhang erkennen zu lassen. Woran musst du dich erinnern? Dass du mit ihr geschlafen hast? Überhaupt, dass es sie gegeben hat?
Alles hat zur Gegenwart hingeführt. Würde ein winziger Teil fehlen, wäre die Gegenwart, die Welt, eine völlig andere. Also ist alles wichtig. Du musst dich an alles, an jeden erinnern.
Mit den Wasserflaschen und den Sandwiches gehst du zu ihr nach draußen, legst einen Arm um sie und führst sie zum Bahnsteig. Sie raucht sehr schnell. Blicke streifen euch, und dir wird bewusst, dass ihr wie ein ganz gewöhnliches Paar ausseht. Es tut weh, weil nur ihr wisst, dass das Gegenteil der Fall ist.
Die Züge fahren nicht. Angeblich kommt bald ein Ersatzbus. Ihr geht auf die Toilette eines Fast-Food-Restaurants, du setzt dich auf den Klodeckel und schniefst das weiße Pulver direkt aus dem braunen Paket, während Noir deinen Kopf streichelt.
Das STYX brennt sich durch deine Schleimhäute und wirkt dahinter zärtlich, als hätte es sich zum Weitertasten Samthandschuhe übergestreift. Irgendetwas in deinem Kopf reagiert dennoch oder gerade deshalb mit Aggression auf die Betäubung.
«Was ist in den Spritzen?», fragst du Noir und streichst mit den Fingern über die Spritzen, die fein säuberlich in ihren Halterungen im Koffer liegen.
«Auch STYX . Intravenös wirkt es noch schneller und stärker.»
Du betrachtest die
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