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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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gut wie nie zu Hause war, und ein alleinstehender Fotograf, aus dessen Wohnung höchstens der Geruch von Katzenstreu drang. Beim Aufsperren der Tür bestätigte sich seine Ahnung: Katjuscha hatte gekocht. Es roch nach Kokosmilch, Mango und Curry. Dass sie sich die Mühe machte, Gewürze zu verwenden, konnte nur bedeuten, dass es Besuch gab.
    Er blieb im Eingang stehen, bis Katjuscha ihn entdeckte. Erschrocken verstummte sie. Auch Simone drehte sich jetzt zu ihm um.
    «Hallo, Nino.» Sie lächelte. Dafür, dass Simone Steuerberaterin war und sich täglich mit den schrecklichsten Dingen der Welt beschäftigte, sah sie noch relativ gut aus. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und auch ihr Kurzhaarschnitt verliehen ihr eine gewisse Strenge, doch ihr Lächeln und ihre Kung-Fu-bedingte Flinkheit entschärften sie wieder, jedenfalls wenn sie gut gelaunt war.
    «Abend», sagte er langsam.
    Katjuscha räusperte sich. «Simone hat mich doch heute zu der Ausstellung begleitet …»
    «Wie geht es dir?», fragte Simone.
    «Gut. Und dir?»
    Sie nickte. Es war bestimmt sechs Monate her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. Er warf einen Blick auf den Wohnzimmertisch. Eine offene, aber noch volle Weinflasche.
    Er sah Katjuscha an. Sie schaute konzentriert zurück, und obwohl sie schließlich nichts verbrochen hatte, glomm ein lauer Unmut in ihren Augen, als müsste sie Simones Gegenwart wenn schon nicht entschuldigen, so doch rechtfertigen.
    «Ich wollte eigentlich gleich wieder weg», log er. «Bin verabredet.»
    Als er an ihnen vorbei in sein Zimmer ging, sah er, dass beide bequeme Schlafanzugshosen von Katjuscha anhatten. Es war kaum eine Woche her, dass sie mit Charlotte hier gesessen hatte. Egal, es ging ihn ja nichts an. Er verschwand in seinem Zimmer, holte sein Handy heraus und schrieb Julia:
Wo wohnst du denn?
    Ein paar Minuten später hatte er ihre Adresse. Bevor er die Tür öffnete, stapfte er lautstark im Zimmer herum, damit Katjuscha gewarnt war und er sie nicht bei irgendwas überraschen würde.
    Ausnahmsweise ließ sie ihn ohne das übliche Verhör – wohin?, mit wem?, wann zurück? – ziehen und bat ihn lediglich, das Gejaule auszumachen, denn er hatte als Zeichen seiner Billigung eine Playlist der romantischsten Songs sämtlicher Boy Bands auf seinem Laptop kreiert, die nun mit diskreter Eindeutigkeit aus seinem Zimmer hauchten. Simone wich seinem Blick aus, als er die Musik abgestellt hatte und ging. Katjuschas Blick schien ihn eher töten zu wollen. Er rief ein unverfängliches «Schlaft schön» und zog die Haustür hinter sich zu.
    In diesem Moment wusste er, dass er die beiden wahrscheinlich ganz grundlos in Verlegenheit gebracht hatte. Sie würden nicht wieder zusammenkommen, dafür verstanden sie sich längst zu gut.
    Nachdenklich schlenderte er die Treppe hinunter nach draußen. Kein Wunder, dass Katjuschas Beziehungen nie gehalten hatten. Leidenschaft war nicht mehr und nicht weniger als die beste Begleiterscheinung von mangelndem Verstehen.
    Eine köstlich warme Dunkelheit lag über den Häusern, als er nach draußen trat. Für eine Weile stand er nur so da, die Hände in den Hosentaschen, und genoss die Brise, ohne sich darum zu scheren, dass er für die Passanten wie ein Kunde des blinkenden Bordells nebenan aussehen musste. Es interessierte sich auch niemand dafür. In der Nacht gehörte die Stadt den Einsamen. Eltern, die nach der Arbeit nach Hause eilten, Verliebte, die sich mit dem Fahrrad besuchen kamen, zum Essen verabredete Freunde und Kollegen, die sich auf ein Bier trafen, zogen ihre Lebensspuren kreuz und quer durch die Straßen, doch diejenigen, die niemanden hatten, nirgendwo hinmussten, von nirgendwo kamen, sie mussten die Stadt um ihrer selbst willen lieben. Für sie legte sie sich die leuchtenden Ketten ihrer Straßenlaternen an. Ließ Perlen von Gelächter aus den Cafés ins Blau der Parks rollen, trieb Hochbahnen voll müder Gesichter über die Brücken; die Einsamen erkannten die Schönheit der Stadt, denn sie sahen auf den Plätzen keine Erinnerungen, in den Häusern nicht Wohnungen, in den Uhren der Bahnhöfe keine Termine, in den Menschen nicht Geschichten. Sie sahen die Dinge gelöst von Bedeutungen, die ihnen über die Jahre in unzähligen Ereignissen wie Plakate über Plakate aufgeklebt worden waren.
    Als er durch die Straßen ging, sah er einen jungen, uralt wirkenden Penner, der seinen Schnaps verschüttete und laut heulte. Obdachlose Kinder zählten in einem U-Bahn-Schacht

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