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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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noch einmal um und nahm stattdessen eine französische Marke.
    Als er aus dem Geschäft trat, stand sie nicht mehr da.
    Er sah in beide Richtungen – Passanten, Radfahrer, amerikanische Touristen, ein paar Autos. Von ihr keine Spur.
    Zum zweiten Mal war sie verschwunden und hatte ihm nichts zurückgelassen, nicht einmal ihren Namen. Aber fünfundneunzig Euro. Und Zigaretten.

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JETZT
    Auf dem Autobahnrastplatz sinken wir auf eine Bank, während die anderen Fahrgäste eine Toilettenpause einlegen. Sie will mich. Sie braucht mich. Ihre Finger gleiten wie Eiszapfen an meinen Wangen hinab, sie sagt –
    Meinen Körper, meine Worte, ich gebe ihr alles, alles, was ich besitze und bin.
    Danach fühle ich mich so leer. Sie träumt wieder. Ich trage sie zurück zum Bus, halte sie auf meinem Schoß, schwebe in der Erinnerung ans eben verstrichene Jetzt, das sie mir zurückgelassen hat. Sie sagte –
    Sag es, sagte sie
    Und hielt mein Gesicht
    Als sie unter mir lag
    Und die Stirn als Boden
    Meines Atems mir bot.
    Wie verschwommenes Licht
    Glitt jedes Wort
    Durch den Teich hinter ihrem
    Wimpernschlag.
    Sag es, flüsterte sie
    Aus schwimmender Kehle
    Wo ihr Herz wie Kohle
    Am Verglühen war.
    Sie zog mich zu sich
    Mit Flehen und Zwang
    Bis fahrig wie Rauch
    Aus meinem Mund kam:
    Ich liebe dich auch.
    Ihre Finger überliefen
    Das Gebirge meiner Zähne.
    Sag es noch mal!
    Ich lieb dich, glaub ich.
    Und angstvolle Tränen
    Ließen ein Glück aufblühen
    Das geisterhaft auf ihrem
    Gesicht verblich.

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12 .
    W ie im Schlaf sperrte er die Wohnungstür auf, stieg aus seinen Schuhen und schlich in sein Zimmer.
    «Wo warst du?», rief Katjuscha aus der Küche. Er hörte, wie der Stuhl über den Boden schrammte, als sie aufstand. Er wollte ihr einen versöhnlichen Blick zuwerfen, aber seine Augen weigerten sich, aufzusehen.
    «Ich muss schlafen», brachte er gerade noch hervor, dann schloss er die Tür hinter sich und ließ sich, wie er war, ins Bett fallen. Es war ihm nie wärmender, nie tröstender vorgekommen. Der Kissenbezug, den er schon seit Wochen nicht gewaschen hatte, war so wunderbar weich, dass er darüberstreichen wollte. Seine Fingerspitzen waren kleine Kussmünder, die diesen unglaublichen Stoff liebkosen wollten. Das Mädchen.
    Du kannst mich sehen?
    Er konnte sie sehen.
     
    In einer psychiatrischen Klinik ist es ähnlich wie auf der Kinderstation eines Krankenhauses: Die Wände sind mit bunten Bildern dekoriert, die Heiterkeit verströmen, es riecht nach Pfirsichseife, Desinfektionsmittel und, ganz leicht, dem Urin des einen oder anderen Patienten, der in den Gang gepinkelt hat. Es herrscht eine behagliche, leicht gefühlsduselige Atmosphäre.
    Der Kugelschreiber rollt über kariertes Papier. Er hat die Notizen nie gesehen, kann sich nicht vorstellen, was da stehen soll – Zitate von dem Mist, den er von sich gibt? Fachbegriffe für seinen gestörten Zustand? Vielleicht schreibt Frau Dipl.Psych. nur ihre Einkaufsliste.
    Mal sehen, was kauft Frau Dipl.Psych. ein? Er wippt mit dem Fuß, er muss sogar lächeln. Biomüsli, das teure, aber ohne Rosinen. Und Slipeinlagen. Viele Slipeinlagen, daneben ein fettes Ausrufezeichen – bloß nicht vergessen! Bei ihr ist alles penibel hygienisch, am besten steril, auch die Baumwollschlüpfer. Vor allem die.
    «Also hatten Sie nicht vor, sich umzubringen. Sie wollten beweisen, dass Sie erst mit vierundzwanzig sterben können.»
    «Sterben werden. Völlig korrekt.»
    «Warum glauben Sie, dass Sie mit vierundzwanzig sterben werden?» Der Blick: kritisch, aber mitfühlend. Sich auf den Patienten einlassen. Wahn will verstanden werden.
    «Ich weiß es. Ich glaube es nicht. Ich weiß es, so wie Sie wissen, dass morgen Montag ist.»
    «Woher kommt dieses Wissen?»
    «Instinkt, Verstand, Gott? Ich bin kein Philosoph.»
    Sie nickt gewichtig. Legt sogar kurz den Kugelschreiber beiseite. «Was würden Sie tun, wenn Ihnen ein Wahrsager prophezeit, dass sie erst mit fünfundneunzig sterben werden?»
    «Ich würde mein Geld zurückverlangen. Dann würde ich damit eine Packung Slipeinlagen kaufen. Und Sie?»
    Nach diesem Gespräch soll er das zweifarbige Antipsychotikum ( 60 mg) morgens, das Beruhigungsmittel ( 2 mg) abends und die kleine längliche Pille gegen Depression ( 25 mg) zweimal täglich nehmen. Kein Problem. Der Mensch ist fähig, fast alles zu schlucken.
    Tage vergehen, blähen sich zu ereignislosen Wochen auf. Er wird träge, hält die

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