Noir
in die Arme ihres Exfreundes zurückzukehren. Und dann noch Marlene. Marlene war eine vier Jahre ältere, von manischem Ehrgeiz getriebene Businessstudentin gewesen, die mit 22 bereits ein Dutzend Auslandssemester und Praktika, aber so gut wie keine sexuelle Erfahrung gehabt hatte und ihm zum Abschied eine lange Hass-Mail schrieb, in der sie ihn als weinerlichen Narzissten, als depressiven Egozentriker und noch Ausgefalleneres aus ihrem Psychologieratgeber beschimpfte. Es mochte stimmen, dass er damals nicht gerade in bester Verfassung gewesen war – im selben Sommer war der Vorfall passiert –, aber Marlene hatte ihn mit ihrer Psychoanalyse völlig unerwartet getroffen. Dafür, dass er sie praktisch mit ihrem eigenen Körper bekannt gemacht und über alle charakterlichen Schwächen hinaus begehrt hatte, war es schließlich nur fair, dass sie ihn bei gelegentlicher Schwermut trösten sollte. Immerhin hatte sie ihre Meinung noch einmal revidiert, als sie ihn einen Monat später in der Klinik besuchen kam. Ein bisschen hatte das die schriftliche Abfuhr wiedergutgemacht; wenn man den ganzen Tag in Gesprächsrunden mit Borderlinern, psychotischen Drogenfällen und Suizidgefährdeten verbrachte und mit denen auch noch den einzigen Fernseher der Station teilen musste, war man ziemlich dankbar für jede Art von Abwechslung.
Gut möglich, dass auch Julia ihm irgendwann eine Szene machen würde. Allein die Vorstellung löste Fluchtreflexe in ihm aus. Er sehnte sich so sehr nach etwas, was wirklich Frieden versprach. Kein Selbstmord. Es musste mehr geben,
einen anderen Ausweg
.
An der U-Bahn-Station musste er nicht lange warten, bis die nächste Bahn kam, die ihn nach Hause bringen würde. Nach Hause – was auch immer das bedeutete.
Wieder das buttrige Licht. Dieselben stillen Gesichter. Er hielt sich an der Stange fest, anstatt sich hinzusetzen, weil auf jeden Sitz mindestens einmal ein Besoffener gepisst oder gekotzt haben musste. Das war reine Statistik, wenn man bedachte, wie viele Jahrzehnte die Wagen schon im Einsatz waren.
Die Stadt ist arm, das ist ihr Charme.
Ging so nicht ein Lied? Oder war das ein Partymotto gewesen?
Fröhlich, fröhlich, Schluss!
Nur drei Töne.
Die U-Bahn hielt, die Türen öffneten sich. Ein paar Jugendliche stiegen ein, die ihm bekannt vorkamen. Natürlich, er hatte sie bei Monsieur Samedi gesehen, im Chemiewerk. Hier wirkten sie noch jünger, als er sie in Erinnerung hatte. Sie waren mit Sicherheit nicht über zwanzig.
Sie drängten sich zusammen in eine Vierersitzecke und redeten leise, ohne ihn oder sonst jemanden im Abteil zu beachten. Ihm war es nur recht.
Dann, schlagartig, sah er SIE . Er kannte sie. Von damals, von – woher nur …
Sie stand hinter dem Plexiglas und blickte auf die jungen Leute hinab. Obwohl sie mit ihnen eingestiegen war, obwohl sie zweifellos dazugehörte, wirkte sie wie unbeteiligt. Diesmal trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover, der aussah, als würde er einem wesentlich größeren Mann gehören, eine schwarze Sporthose mit Reißverschlüssen an den Seiten und schwere Schnürstiefel. Unter dem ausgewaschenen Käppi fielen ihr dunkle Haare in den Nacken. Er betrachtete sie konzentriert, aber er kam einfach nicht darauf, warum sie ihm so vertraut erschien. Die krumme Nase. Ihr Mund wie eine fleischige, blasse Blüte. Er konnte sich nichts unter ihr vorstellen – sosehr er sich auch anstrengte, er spürte nichts, wenn er sie ansah. Woher sie kam. Wann sie starb. Sie blieb merkwürdig zweidimensional wie eine Gestalt in einem Gemälde, die erst durch besondere Kunstfertigkeit, durch einen Trick echt wirkte.
Ein Trick.
Sie war es – das Mädchen, das mit ihm die Séance verlassen hatte. Das fortgelaufen war. Und er hinterher, nach draußen, und da hatte er – als Julia kam – den Faden verloren.
Zögernd ließ er die Stange los und machte einen Schritt auf sie zu. Obwohl sie und ihre Freunde am anderen Ende des Abteils waren, blickte sie sofort auf und sah ihn an.
Du kannst mich sehen,
hatte sie gesagt.
Die U-Bahn kam quietschend zum Stehen. Das Mädchen riss die Tür auf und stieg aus, ohne sich von ihren Freunden zu verabschieden. Diese bemerkten ihr Verschwinden gar nicht.
Eine Sekunde war er zu perplex, um zu reagieren. Dann zog er selbst die nächste Tür auf und trat auf den Bahnsteig. Er entdeckte sie etwa zehn Meter entfernt. Sie sah ihn an, ging ein paar Schritte rückwärts und drehte sich schließlich um.
Er wollte etwas rufen,
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