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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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stürzen aus ihren Augen, und er ertrinkt, ringt um Atem, überall ist Wasser, ein reißender Fluss – fast – hat er – ihren Namen –
    Bleib wach!
     
    Als er zu sich kam, waren seine Wimpern verklebt. Er rieb sich über die Augen, hinter denen ein dumpfer Schmerz pochte, als hätte er im Schlaf geweint. Das war ihm lange nicht mehr passiert.
    Draußen war es weder dunkel noch hell. Zitternd zog er sein Handy aus der Hose und betete, dass es nicht immer noch derselbe Abend war. Doch sein Handy war aus. Er musste erst das Ladekabel unter seinem Bett finden und anstecken, bevor das Display wieder aufleuchtete.
    Es war fünf Uhr morgens. Er rollte sich auf den Rücken und schloss noch einmal die Augen. Sein Kopf war merkwürdig ausgehöhlt, als wären jegliche Emotionen verbraucht. Diesen Moment musste er nutzen, um seine Gedanken zu ordnen. Er war jetzt

    und die Ahnung seines nahenden Todes war so stark, dass er sie körperlich spürte. Er fühlte sich verletzlich, merkte, wie die Falten des zerwühlten Bettlakens in seinen Rücken drückten.
    Ruhig atmete er ein und aus. Doch selbst seine Lungen schienen verkrampft, er bekam nicht genug Luft.
    So lange hatte er sich darauf eingestellt – und jetzt, wo es so weit war, ergriff ihn Panik. Er
wollte
leben. Menschen kennenlernen, die Welt bereisen und den ganzen Quatsch, der einen angeblich erfüllte. Vermutlich waren das alles nur Wünsche der Eitelkeit, aber trotzdem waren es Wünsche, und sie blühten ausgerechnet da in den flammendsten Farben auf, wo er dem Ende nah war und nicht mehr die Kraft besaß, sie zu unterdrücken.
    Gegen acht Uhr kam Katjuscha in sein Zimmer. Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an. Dann setzte sie sich auf die Bettkante. Sie hielt das kleine, in Weihnachtspapier gewickelte Geschenk in der Hand, das er gestern auf dem Tisch gesehen und nicht geöffnet hatte.
    «Morgen», flüsterte sie.
    «Tut mir leid», flüsterte er zurück.
    Eine Weile berührten sich nur ihre Blicke, und er wusste, dass er sicher war, solange sie sich ansahen. Auch wenn es nicht für immer sein konnte. Das Jetzt war das größte Geschenk, das sie ihm machen konnte.
    Sie hielt ihm das Päckchen hin. Er stützte sich auf die Arme und riss es vorsichtig auf.
    Eine Armbanduhr kam zum Vorschein. Sie war schwarz und schlicht und steckte in einem Pappkarton. Die Zeiger waren grünlich, sie schienen im Dunklen zu leuchten.
    «Damit du nicht zu spät zur Arbeit kommst.» Sie lächelte ein bisschen.
    Er richtete sich auf und schloss sie in die Arme. Die Wärme ihrer Hände drang durch sein T-Shirt, durch die Haut, bis in sein Innerstes. Keiner ließ den anderen los.
    Katjuscha durfte nicht wissen, was er wusste. Niemals. Wenn es passierte, dann wollte er nicht zu Hause sein. Sie hatte ihn schon einmal gefunden, das war genug. Es würde wie ein Unfall aussehen, und im Nachhinein würde sie denken, dass er ahnungslos und glücklich bis zum Ende gewesen war.
    Sie schniefte und wollte etwas sagen, aber er drückte sie so fest an sich, dass nur ein Nuscheln erklang.
Eine Uhr.
Er verbot sich zu weinen. Jemals wieder vor ihr zu weinen.
    Mit einer Kraft, von der er nicht wusste, woher er sie nahm, brachte er ein Lächeln zustande. «So, gibt es Frühstück? Ich hoffe, ihr habt mir was vom Kuchen übrig gelassen.»
    Sie küsste ihn auf beide Wangen und auf die Stirn. «Es ist alles noch da.»
     
    Die nächsten Tage waren die schlimmsten seines Lebens. Nicht einmal in jenem Sommer, als der Vorfall passiert war, hatte er so sehr gegen die Panik ankämpfen müssen wie jetzt.
    Er wachte pünktlich um vier Uhr früh auf und lag bis sieben im Bett, bewegungsunfähig vor sternweißer Angst. Angst davor, nicht aufstehen zu können, wenn er gehen musste, und Angst davor, dass es ihm gelang und er die Wohnung tatsächlich verließ.
    Es
gelang
ihm, jedenfalls die ersten drei Male. Er stand auf, als er Katjuschas Wecker nebenan hörte, kochte Kaffee und entsorgte heimlich eine Tablette. Dann machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Das war der schlimmste Teil – bis zur U-Bahn zu gehen, vier Stationen zu fahren, umzusteigen, drei Stationen weiter zu fahren und zwei Straßen zu überqueren, bevor er im Laden ankam. Dann war er bereits so verschwitzt, dass ihn Pegelowa fragte, ob er neuerdings mit dem Fahrrad fuhr.
    Abends wiederholte sich die Tortur. Jeden Moment, den er im Freien verbrachte, erwartete er ein Auto, das ihn von hinten erwischte und über die Straße schleuderte. In

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