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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Arme steif wie ein Roboter, ihm wächst ein Fünf-Kilo-Speckgürtel und seine Knöchel sind so aufgedunsen, dass ihm das Stehen wehtut. Bald, verspricht die Ärztin, wird man auf Mittel mit weniger Nebenwirkungen umsteigen. Die soll er dann für den Rest seines angeblich fünfundneunzigjährigen Lebens einnehmen, um zu unterdrücken, was er weiß.
     
    Es gibt Männer und Frauen auf der Station. Ihre Eltern oder mindestens genauso kaputten Freunde bringen ihnen Sporttaschen voller Pyjamas und Badeschlappen und Zahnbürsten und Kopfhörer. Die Psychotischen rasieren sich die Haare, wenn sie noch welche haben, oder reißen sie sich büschelweise aus. Andere organisieren sich ein Buttermesser vom gemeinsamen Abendbrot und ritzen sich die Innenseiten ihrer Schenkel auf. In den Gruppengesprächen schauen sie alle und niemanden an. Manche reden aggressiv und schnell und verstört über politische Verschwörungen und unsichtbare Telepathie-Tentakel, die einen Kopf mit dem anderen verbinden, aber die meisten sagen gar nichts mehr, weil nichts in ihnen drin ist außer ein paar kranken Stimmen, denen mit Pillen das Maul gestopft wird. Was dann bleibt, sind stillgelegte Menschen. Sie schauen fern und sehen keine Shows und Filme, nur einen flimmernden Kasten. Die magersüchtigen Mädchen wollen immer an den Tischen in der Ecke sitzen, wo niemand sieht, wie sie ihr Brötchen in Fetzen reißen und sich zwingen (es wagen), ein bisschen was davon zu FRESSEN . Vor der Toilette riecht es abends öfter als morgens nach Erbrochenem und saurem Versagen, weil irgendeine es nie schafft, sich damit abzufinden, am Leben zu sein.
    Zu leben ist ein Problem für alle hier. Die meisten, die wegen versuchten Selbstmords da sind, haben eine Drogenkarriere hinter sich. Er ist da die Ausnahme. Er leidet unter einer milden Schizophrenie, eventuell durch Hirnschäden im Kindsalter ausgelöst. Panikattacken hat er seit dem Autounfall, sie treten noch bis in die Pubertät auf. Da legt er ein auffällig rebellisches Verhalten (vorbestraft wegen Sachbeschädigung, Graffiti, ein demoliertes Auto, zerschlagene Schulfenster) und Promiskuität an den Tag («Würden Sie auch, wenn Sie mehr abkriegen würden»), wechselt häufig den Freundeskreis, ohne dauerhafte Bindungen einzugehen. Das Erwachsenwerden kann beängstigend sein und labile Persönlichkeiten näher an den Abgrund treiben. Fast wäre er gestürzt. Aber Katjuscha, die liebe, vernünftige Katjuscha, sein Schutzengel, sie hat ihn im Badezimmer gefunden und den Notdienst gerufen. Die Ärzte haben seinen Sturz ins Bodenlose verhindert. Aber er weiß, dass es einfach noch nicht so weit war, und wenn es so weit ist, kann kein Mensch was dagegen tun. Nicht mal mit Doktortitel. Und weißem Kittel. Und diversen Wundermitteln.
     
    All die weiblichen Patienten. Manche schon nach ein paar Tagen wieder weg, andere für drei Monate stationär, bevor sie in eine andere Institution abgeschoben oder an ihre Familien aufgegeben werden. Gesichter, ausgemergelt von Hunger und Drogen oder aufgedunsen von Alkohol und Medikamenten. Bleiche, erschöpfte, ausgestopfte Gesichter. Aber SIE ist nicht unter ihnen. Er vergleicht, sucht unter all den Leichen seiner Vergangenheit nach ihrer kleinen, krummen Nase. Aber er findet nichts, nicht einmal jemanden, der auch nur so einen ähnlichen Blick hat wie sie. Sie ist ein uraltes Gemälde zwischen abertausend Digitalfotos.
Kann ich dich sehen?
Er fragt immer wieder, aber darunter liegt eigentlich eine ganz andere Frage verborgen, die nicht einmal sie beantworten könnte:
WARUM interessiert mich das?
Sie ist ein Rätsel, gewiss, aber wenn das wahre Rätsel er selbst ist …
    «Weinerlicher Narzisst», sagt Marlene, das Stipendiaten-Superweib. «Wieso hast du nie zurückgerufen?», fragen zwölf oder auch zweiundachtzig Mädchen, an die er sich nicht mehr richtig erinnern kann, und dann verlassen sie ihn, verlassen sie alle die Klinik wie einen abenteuerlichen Urlaubsort, denn mehr war es nicht mit ihm, und kehren zu den gesunden Menschen da draußen zurück, die er alle – alle! – verabscheut.
    Aber dann streift sie ihn mit ihren Augen, und er sieht tief hinein und weiß trotzdem nicht, wann und wie sie sterben wird. Sie ist der einzige Mensch, in dem er nicht den Tod sieht. Aber auch kein Leben.
    «Du weißt, was ich bin», sagt sie gereizt, sie sagt WAS ich bin, und es klingt wie eine triumphale Kapitulation, ein Aufgeben, ein Loslassen, explodierendes Ende, Tränen

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