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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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aber er wusste nicht, was. Selbst wenn ihm etwas Sinnvolles eingefallen wäre, hätte er bestimmt nur ein Krächzen hervorgebracht. Er ging ihr hinterher. Sie lief die Stufen nach oben, anstatt die Rolltreppe zu nehmen. Er beeilte sich, sie einzuholen. Neben ihm brauste die Bahn davon.
    Sie war bereits um die Ecke gehuscht und hatte die zweite Treppe ins Freie zurückgelegt, als er sich noch in der Unterführung zurechtzufinden versuchte. Es stank nach Bier und den zotteligen Hunden der Punks. Auch ein stechender benzinartiger Geruch presste ihm von innen gegen die Stirn. Fast hätte er das Mädchen verloren – aber noch einmal durfte das nicht passieren. Er rannte nach draußen. Sie stand an einer großen Straße und wartete den Verkehr ab. Kaum dass er sie erreicht hatte, lief sie hinüber. Er lief mit. Ein Auto bremste scharf ab und hupte lange. Sie reagierte nicht darauf, genauso wenig wie er. Sie bog in eine Straße voller Bars, Cafés und Imbissbuden.
    Längst war der Himmel warmes Dunkelblau. Die Straßenlaternen warfen ihr steriles Licht auf den Bürgersteig, und in den Fenstern der Kneipen blinkten Reklameschilder. Hundert Meter weiter, an einer Kreuzung, war ein hell erleuchtetes Blumengeschäft, das niemals schloss. Der Duft exotischer Blüten und feuchter Erde schwappte bis hier. Alles wirkte auf eine berauschende Art künstlich.
    Während sie zügig ihren Weg fortsetzte, blieb er immer einen halben Meter hinter ihr. Er glaubte schon, sie wüsste nicht, dass er ihr folgte, da sagte sie über die Schulter: «Was willst du?»
    Ihre Stimme erschreckte ihn, nicht nur, weil sie ihm die Absurdität seiner Handlung bewusst machte. Sie klang wie weicher Rauch, zwischen Hitze und Kälte rasch verblassend, und so
vertraut
.
    Er hielt es für angebracht, ganz aufzuholen und neben ihr herzugehen. Doch als er schneller wurde, wurde sie es ebenfalls. Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte.
    «Wir haben uns im Chemiewerk gesehen, weißt du noch? Du wolltest mich mit nach Hause nehmen, aber ich habe gesagt, ohne Abendessen läuft nichts.»
    Sie reagierte nicht. Eine Weile ging er ihr wortlos hinterher und überlegte krampfhaft, wie er seinen blöden Spruch retten konnte. Schließlich holte er sie ein und kam ihr dabei so nah, dass sie entweder langsamer werden oder sich an ihm vorbeidrängen musste. Sie entschied sich, ihr Tempo zu drosseln.
    «Wie heißt du?»
    Ihr Blick streifte ihn mehr, als dass sie ihn richtig ansah. Sie hatte in den Spitzen hell werdende Wimpern, die sich mit ihren Augen bewegten wie auffächernde Flügel.
    «Du weißt, was ich bin», sagte sie, und es klang beinahe gereizt.
    «Wie meinst du das?»
    Jetzt blieb sie stehen. Ungläubig kniff sie die Augen zusammen. «Du bist einer.»
    «Ein was?» Er bekam eine Gänsehaut.
    Als sie sich an ihm vorbeischieben wollte, fasste er nach ihrer Hand. Sie trug wieder ihre Lederhandschuhe. Als er sie berührte, sog sie scharf die Luft ein und riss den Arm zurück.
    «Entschuldige. Ich meine … also, mir kommt es nur vor, als würden wir uns kennen.»
    Sie atmete schwer, er konnte es sehen. Hinter ihrem rätselhaften Gesicht rauschten Gedanken, die er nicht erraten konnte. Sie stand direkt vor ihm und war so unerreichbar, wie er es bei keinem Menschen je zuvor empfunden hatte.
    Und dann fiel ihm etwas ein. «Warst du mal in einer Klinik? Vor fünf Jahren oder drei: Essstörung oder Drogenpsychose?»
    «Du verwechselst mich.»
    Vielleicht stimmte es. Wenn er sie in der Klinik kennengelernt hätte, wäre sie ihm bestimmt schon damals aufgefallen, dann hätte er nicht so lange überlegen müssen, wo er ihr begegnet war. Woher er diese schöne, kaum greifbare Stimme kannte. Aber wenn er sie verwechselte, dann müsste er doch wissen, mit wem.
    «Ich würde gerne wissen, wer du bist», sagte er leise.
    «Dann kauf uns Zigaretten.»
    Er nahm den Hundert-Euro-Schein, den sie ihm hinhielt. Auf eine traumartige Weise machte das Ganze Sinn. «Willst du sonst noch was? Eine Cola? Ein Rubbellos? Fahrkarten?»
    Sie schüttelte den Kopf, ohne auch nur gegen ein kleinstes Lächeln ankämpfen zu müssen.
    Er hob die Hand an die Stirn, als wollte er salutieren, und lief in den Kiosk nebenan, bevor er sich noch weiter blamieren konnte. Erst vor dem Verkäufer fiel ihm ein, dass sie gar nicht gesagt hatte, welche Marke Zigaretten sie wollte. Er wählte Marlboro Lights, weil die meisten Mädchen Marlboro Lights rauchten, entschied sich im letzten Moment aber

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