Noir
der U-Bahn sahen sämtliche bärtigen Männer und verschleierten Frauen für ihn wie Selbstmordattentäter aus. Er vermied es, an Jugendlichen vorbeizugehen, denn die meisten bewaffneten Überfälle wurden von Jugendlichen verübt. Wenn er zu Hause ankam, versuchte er sich zum Duschen und Essen zu zwingen, ehe er ins Bett kroch. Doch sein Herz kam nicht einmal zur Ruhe, als er die Wand am Rücken spürte, eingewickelt in seine Bettdecke.
In seiner Vorstellung zerbarst das Fenster, und die stählernen Arme eines UFO s packten ihn.
In seiner Vorstellung ließ ein Erdbeben das Haus zusammenstürzen wie krachenden Zwieback.
In seiner Vorstellung stand ein Kinderdämon mit zwei Messern in der Ecke, um ihn zu verstümmeln, sobald er die Augen schloss.
Obwohl er sich alle Mühe gab, einen normalen Eindruck auf Katjuscha zu machen, wurden ihre Blicke immer länger. Sie fragte ihn, warum er nichts mehr mit seinen Freunden unternahm. Sie bemerkte, dass er abgenommen hatte. Weil ihm zu nichts eine Ausrede einfallen wollte, zuckte er nur die Schultern und überließ es Katjuschas Phantasie, sich Erklärungen auszudenken.
Am vierten Morgen schrak er mit so starken Verspannungen aus einem Albtraum auf, dass er im ersten Moment glaubte, er hätte sich die Nerven eingeklemmt und sei gelähmt. Doch es war nur seine Muskulatur. Sich bloß auf die Seite zu drehen war so schmerzhaft, dass er ins Kissen stöhnte. Aufstehen, geschweige denn die Wohnung verlassen, war unmöglich.
Zum Glück fiel es ihm nicht schwer, Katjuscha eine Erkältung vorzutäuschen, bleich und fiebrig, wie er war. Sie rief für ihn bei Pegelowa an und entschuldigte ihn, wie sie ihn früher in der Schule entschuldigt hatte. Bevor sie ging, machte sie ihm einen Kamillentee und eine Wärmflasche.
Als er alleine war, weinte er vor Scham, dass er es nicht fertigbrachte, aufzustehen und Katjuscha aus seinen Problemen rauszuhalten. Danach starrte er an die Decke.
Als er die Langeweile nicht mehr ertrug, machte er ein paar Bleistiftzeichnungen und legte sie ohne Datum und Signatur in die Schublade. In die Hölle verdammte Säuglinge, dachte er. Ohne Taufe begraben.
In seiner Vorstellung verblassten die Zeichnungen auf dem Papier, als wären sie nie da gewesen.
Auch am Tag darauf gelang es ihm nicht, aus dem Bett zu kommen. Seine Knie begannen unkontrolliert zu zittern, als er die Füße auf den Boden stellte.
Ich sterbe. Heute sterbe ich.
Sein Körper legte sich wieder hin, als zählte sein Wille nichts mehr.
«Ich bin noch krank», murmelte er, als Katjuscha den Kopf durch die Tür steckte.
Obwohl sie ihn für den Rest der Woche mit Tees und homöopathischen Kügelchen versorgte, schien sie nicht restlos überzeugt von seiner Erkältung. Er wusste, dass sie nur mit Simone telefonierte, wenn sie glaubte, dass er schlief. Offenbar nahm sie immer noch an, dass es ihn belastete, wenn sie wieder eine Beziehung einging. Sich vorzustellen, wie sie sich die Schuld für seinen schlechten Zustand gab und
schuldig fühlte
, brachte ihn schier um den Verstand.
Eines Abends, als sie ihm Brühe und Zwieback ans Bett brachte, fragte sie ihn, ob er seine Medikamente regelmäßig genommen habe.
Er spülte sich den Zwieback im Mund mit einem großen Schluck Brühe hinunter. «Ja. Klar.»
«Gut», sagte sie und holte Luft. «Vielleicht brauchst du gar nicht mehr eine so hohe Dosis. Mach doch bitte einen Termin mit Dr. Birkmann aus. Du warst doch schon seit Wochen nicht mehr bei ihr.»
Er beobachtete, wie Karotten- und Selleriestückchen durch die Brühe trieben, ohne je zu kollidieren, und nickte. Natürlich meinte Katjuscha nicht ernsthaft, er könnte seine Dosis verringern. Sie roch den Braten und wollte, dass Dr. Birkmann ihm im Gegenteil eine höhere verschrieb.
«Ich ruf sie morgen an.» Er rief tatsächlich an, und als er nach dem dritten Klingeln den Anrufbeantworter ihrer fliederfarben gestrichenen Praxis erreichte, legte er noch vor dem Piepton auf.
An einem Dienstag, sechs Tage, nachdem er bei Julia gewesen war, entdeckte er eine SMS von ihr. Sein Handy war schon seit längerem auf lautlos gestellt, weil das Klingelgeräusch von Nachrichten irgendwelcher Bekannter, die feiern gehen wollten, ihm Schweißausbrüche bereitete. Sie schrieb:
Wie geht’s dir?! Hab dich lang nicht gesehen!! : (
Nur zwei Ausrufezeichen, um einen Satz zu beenden – das zeugte von echter Niedergeschlagenheit. Er ließ das Handy auf den Teppich sinken und vergrub das Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher