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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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holte er eine Zigarette aus seiner Hosentasche und bat eine Passantin um Feuer. Er inhalierte tief den Rauch, der ein Beweis für ihre Begegnung war. Bis vor kurzem hatte er nie alleine und nie tagsüber geraucht, aber dass es ihm wichtig gewesen war, Nichtraucher zu bleiben, kam ihm jetzt nur noch wie Eitelkeit vor. Dinge änderten sich eben.
    Bevor er heimging, erledigte er noch Einkäufe. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er sich zuletzt darum gekümmert hatte. Irgendwie blieb der Großteil des Haushalts immer noch an Katjuscha hängen. Er kaufte die mit Knoblauch gefüllten Oliven, die sie so mochte, Pistaziengebäck und noch mehr Sachen, die ihn an seine Schwester erinnerten, an Kindheit, an Abendessen aus der Einkaufstüte und aus Plastikschälchen vor dem Fernseher, und bezahlte rund vierzig Euro, was mehr war, als er in den letzten drei Monaten auf einen Schlag ausgegeben hatte.
    Ein wenig zwanghaft versuchte er die Freude von heute Morgen wieder in sich heraufzubeschwören. Er würde gleich nach Hause kommen, er würde das Abendessen vorbereiten, was eigentlich nicht mehr erforderte, als die Deckel von verschiedenen Schalen und Dosen und Gläsern zu nehmen, und dann würde er mit Katjuscha essen und dabei über nichts Wichtiges reden und, ohne darüber allzu viel nachzudenken, glücklich sein.
     
    Kurz bevor die Dunkelheit ausdünnte, wachte er vor Angst auf, eine gleißend helle Angst wie herabstürzende Kometen, die jede Rücksicht, jeden Gedanken an irgendwen sonst völlig ausblendeten, weil es um sein Leben ging.
    Bitte, dachte er, ohne zu wissen, wen oder was er eigentlich anflehte. Bitte hilf mir, die Angst zu ertragen.
    Hilf mir, den Tod zu ertragen.
Ihn zu überwinden.
    Der Himmel lag schwer vor Nebelwolken über den Dächern, als hätte er sich an Smog und Schmutz überfressen. Es musste in der Nacht geregnet haben, denn das Laub rieselte nicht mehr wie Konfetti über die Bürgersteige, es klebte braun am Asphalt. Wenn dies der letzte Tag war, den er erleben sollte, passte das Wetter.
    Pegelowa schien ein wenig besänftigt, als sie ihn wieder so viel früher bei der Arbeit fand, und sprach ihn nicht mehr auf seinen Gesundheitszustand an. Überhaupt schien sie seit einigen Tagen mehr mit sich selbst beschäftigt als sonst, was ihm nur recht war.
    Der Vormittag verging. Es begann zu nieseln. Die wenigen Kunden, die sich in den Laden verirrten, hinterließen rutschige Schuhabdrücke auf dem Boden. Die Luft über der Heizung flimmerte. Pegelowa war die meiste Zeit über im Büro und telefonierte mit Lieferanten und mit ihrer Tochter. Man musste nicht viel Russisch verstehen, um zu hören, dass sie stritten. Pegelowas Schwiegersohn wollte sich für seinen Traum vom eigenen Restaurant Geld leihen. Pegelowa hatte öfter in ihrem Leben Geld verliehen, als man ihr zutraute, aber nie einem Nichtsnutz – ob er nun zur Familie gehörte oder nicht.
    Als es schließlich auf vier Uhr zuging, bekam er eine SMS von Philip:
Treffen um  7 an der Bahnbrücke.
    Während er auf die Nachricht blickte, dachte er zum ersten Mal, was ihn schon den ganzen Tag unterschwellig beunruhigt hatte: Was, wenn das das Ende seines Lebens war? Wenn Monsieur Samedi ihn aus irgendeinem Grund abmurkste? Das Glas hatte gesagt, dass er diesen Tag noch leben würde. Aber nach Mitternacht …
    Irgendwie schaffte er es, auch heute zwei Stunden früher zu gehen, ohne eine Standpauke von Pegelowa zu kassieren. Als er anfing, ihr von Antibiotika zu erzählen, die ihm gestern verschrieben worden seien und die er alle acht Stunden nehmen müsste und zu Hause vergessen hätte, schüttelte sie nur den Kopf und drehte sich weg.
    Um kurz vor sieben war er an der Bahnbrücke und wartete auf einer Bank, wo er die Treppen der U-Bahn gut im Blick hatte. Weil gelegentlich Nieselregen fiel, war er der Einzige, der hier saß. Alle anderen beeilten sich, aus dem schlechten Wetter zu kommen. Nur eine ältere Frau in verdreckten Jeans tigerte unter den tropfenden Bäumen umher, schimpfte vor sich hin und durchsuchte die Mülleimer. Als sie die Reste aus sämtlichen Bierflaschen getrunken hatte, verschwand auch sie.
    Sieben Uhr verstrich. Er saß bibbernd auf der Bank, jetzt sicher, dass Philip etwas falsch verstanden hatte. Wahrscheinlich wollte Monsieur Samedi einen anderen Freund von ihm treffen, einen anderen Drogendealer – und Philip hatte vergessen, Nino abzusagen.
    Dann tauchte Philip an der Treppe zur U-Bahn auf, seine blaue

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