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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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gestaltet sich deine Gleichung vom großen, universellen Warum: Wie kannst du deinen eigenen Tod voraussehen? Was ist denn der Tod? Und was kommt danach? Wird sich die Antwort überhaupt an zeitliche und räumliche Gesetze halten?»
    «Das sind also meine großen Fragen», sagte Nino, gegen seinen Willen blinzelnd, und er klang längst nicht so sarkastisch, wie er vorgehabt hatte. «Was sind Ihre? Sie reden darüber, also sind Sie nach Ihrer Definition selbst noch auf der Suche. Vielleicht sind die Fragen, die Sie als meine bezeichnet haben, eigentlich Ihre eigenen.»
    Monsieur Samedi leerte seine Tasse, leckte sich über die fleischigen Lippen und schenkte sich nach. Wieder kippte er drei Löffel Zucker hinein. «Auch wenn du ein wenig frech bist, du sprichst sehr elegant. Mir gefallen Menschen, die sich elegant ausdrücken können. Deutsch ist zwar die erste Fremdsprache gewesen, die ich lernte, aber zwischen meinem fünften und vierundzwanzigsten Lebensjahr habe ich überwiegend Französisch gesprochen. Was Sprachen betrifft, bin ich ein Pedant. Ich ertrage es nicht, eine Sprache nur zum Teil zu beherrschen. Ganz oder gar nicht.»
    «Ich habe gehört, Sie sind Araber.»
    «Unter anderem.»
    «Woher kommen Sie? Ursprünglich?»
    «Daher, wo alle Menschen herkommen.» Er lächelte wieder. «Weißt du, Sorokin, wir haben vieles gemeinsam. Wie ich hast du mehr als eine Herkunft. Deine Sprache ist weder die deiner Mutter noch die deines Vaters. Nirgendwo ist deine Familie, nirgendwo deine Kultur, nirgendwo eine Wohnung oder ein Haus, wo sich die Erinnerungen deiner Kindheit sammeln, dein Kern setzt sich aus den Orten zusammen, an die deine Schwester dich mitgenommen hat. Deine Schwester ist ein wankelmütiger Mensch, der sich im Fluss des Lebens mal hierhin und mal dorthin bewegt, und trotzdem ist sie dein einziger Halt. Deshalb hast auch du ein unbeständiges Wesen. Manche Menschen sind aus Stein gemacht, unveränderlich, fest. Viele aus Holz, anfällig für Schimmel oder Sprödigkeit. Die meisten sind aus Schlamm. Eine Masse, die sich überall einfügt und sonst nicht bewegt. Aber du bist aus Wasser.»
    Woher kennen Sie Katjuscha?, wollte Nino fragen, doch er brachte keinen Ton hervor. Mit zusammengepressten Lippen starrte er Monsieur Samedi an.
    «Erschrick nicht darüber, dass ich mehr über dich weiß, als du mir erzählt hast», sagte der Araber, als hätte er seine Gedanken erraten. «Du selbst kennst das ja: Wissen, das aus dem Nichts kommt, gibt uns mitunter mehr Rätsel auf als fehlendes Wissen.» Er nahm einen Schluck dampfenden Tee. Wahrscheinlich verbrannte er sich die Zunge daran, doch er zuckte mit keinem Muskel. «Kannst du auch den Tod anderer sehen?»
    Nino zögerte eine Weile, doch schließlich nickte er knapp. Er wagte nicht, «Ja» zu sagen, weil er wusste, dass es zu verrückt klingen würde. Ein Nicken war ungeheuerlich genug.
    «Wollen Sie von mir hören, wie Sie sterben werden?»
    Monsieur Samedi schüttelte den Kopf, als wollte er eine Fliege verscheuchen. «Für ein so einfaches Rätsel brauche ich dich nicht.»
    «Wofür dann?»
    Der Araber ließ sich Zeit. Er nippte erneut an seinem Tee und schmatzte. «Wie gesagt bist du der zweite Mensch, dem ich begegnet bin, der eine so starke angeborene Verbindung zum Urquell hat. Der erste war mein Lehrer. Er hat mich die Sprache gelehrt, die es mir ermöglicht, meine Fragen zu formulieren. Sprache ist nicht nur das Garn, aus dem Gedankenstoff gewoben wird, sondern auch das Stützkorsett von Gefühlen. Und die Spinnwebe hin zum Übersinnlichen. Ich könnte dir eine Art zu sprechen beibringen, die alles übersteigt, was du dir vorstellen kannst. Werde mein Schüler.»
    Nino nahm einen Schluck Tee, nur um irgendetwas zu tun. Wie absurd die Situation war. Hier saß er völlig high in einer millionenschweren Wohnung, um sich von einem esoterischen Drogenboss anwerben zu lassen.
    Aber es war noch mehr als das. Was Monsieur Samedi anbot, war alles, was er sich jahrelang erträumt hatte. Jemand, der seine Fragen verstand. Und versprach, sie
beantworten
zu können. Gerade jetzt, wo jede Minute vielleicht seine letzte war.
    Aber die Sache hatte einen Haken. Monsieur Samedi war allem Anschein nach ein Irrer.
    «Ich bin Vegetarier», sagte Nino. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er zuletzt Fleisch gegessen hatte. Gestern Mittag, ein Döner. Egal. Vor seinem geistigen Auge sah er Katjuscha, die vor Stolz lächelte. «Ich werde keine Hühner oder sonst

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