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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Tässchen und nippte daran. Der Tee schmeckte nach Lakritz und war erschlagend süß, obwohl er so wenig Zucker wie möglich genommen hatte.
    «Ich erinnere mich», hob Monsieur Samedi an, «wie du damals an meiner Séance teilgenommen hast. In dem verlassenen Chemiewerk. Du warst sehr überheblich.»
    Nino schwieg. Obwohl – oder gerade weil – kein Vorwurf aus der Bemerkung herauszuhören war, fühlte er sich bloßgestellt.
    «Du hast eine Frage an das Glas gehabt. Dabei hast du es nicht einmal mit deinem Finger berührt.» Monsieur Samedi lachte über sein Erröten. «Natürlich habe ich das mitgekriegt. Du wolltest mich prüfen, ohne dich auf mich einzulassen. Dachtest du wirklich, dass du dann eine richtige Antwort erhältst?»
    Er nahm den Löffel aus seiner Tasse, leckte ihn geräuschvoll ab und ließ ihn dann auf den Tisch fallen wie etwas, das seinen Nutzen und Wert endgültig verloren hat. «Du möchtest wissen, warum ich meine Zeit an jemanden verschwende, der mir so wenig Respekt erwiesen hat. Nun, ich halte dich für einen sehr besonderen Menschen. Besonders, wie ich es bin. Darum bist du hier. Wir sollten uns näher kennenlernen.»
    Nino sagte nichts. In seinem Kopf flimmerte es vor hundert dunklen Möglichkeiten, was Monsieur Samedi meinen könnte. Niemand hatte je etwas Ähnliches zu ihm gesagt. Es klang unwirklich, wie aus einem Drehbuch.
    Nachdenklich trank der Araber einen Schluck Tee, doch Nino fühlte sich selbst dann noch beobachtet, als er die Augen niederschlug.
    «Die Frage, die du damals gestellt hast, ist ausgesprochen ungewöhnlich. Meistens wollen die Leute wissen, was in ihrem Liebesleben und mit ihren Finanzen passieren wird. In achtundneunzig Fällen von hundert ist das so. Dass jemand fragt, wann er sterben wird – dass jemand sich überhaupt Gedanken darüber macht –, geschieht sonst nur bei Leuten, die bereits regelmäßig Gläserrücken spielen und allmählich alles erfragt haben, was es über sich selbst zu wissen gibt. Bist du ein regelmäßiger Spieler gewesen, als du zu mir kamst?»
    Nach einem Moment schüttelte Nino den Kopf. «Nein.»
    Monsieur Samedi nickte, als hätte er das bereits gewusst und nur sichergehen wollen, dass Nino ihn nicht anlügen würde. «Du warst offensichtlich von der Antwort enttäuscht, darum bist du gegangen. Was bedeutet, du kennst die korrekte Antwort bereits. Du sagst, du hast davor nicht Gläserrücken gespielt. Hast du schon einmal an irgendeiner Séance teilgenommen?»
    «Sie waren der Erste, der vor meinen Augen ein Huhn aufgeschlitzt hat», sagte Nino, doch Monsieur Samedi schien seine Feindseligkeit nicht wahrzunehmen, oder er empfand sie als irrelevant.
    «Woher weißt du, wann du stirbst?»
    Nino atmete nicht. Zum ersten Mal spürte er unter Monsieur Samedis glatter ruhiger Oberfläche ein Zittern. Da waren Emotionen, heftige, zu gigantischen Gewitterwolken aufgestaute Emotionen, die jenseits des Sichtbaren lagen. Wenn sie ausbrachen, würden sie seine eiserne Beherrschung und seinen Verstand und jeden Menschen in seiner Umgebung wegfegen.
    «Selbst wenn ich wollte, könnte ich Ihnen das nicht sagen.»
    Das Zittern im Tiefen wurde deutlicher, doch Monsieur Samedi nickte als Zeichen, dass er diese Antwort akzeptierte. «Du weißt es einfach. Wie ich schon ahnte. Eine große Seltenheit. Ich habe in meinem Leben nur zwei Menschen getroffen, die ihren eigenen Tod kannten, ohne das Jenseits befragt zu haben. Einer davon war mein Lehrer. Der andere bist du.»
    Er nahm noch einen Schluck Tee und sah Nino mit ernster Bewunderung in die Augen. «Dann hat dich genau die Frage, die ich dir gerade gestellt habe und die du nicht beantworten kannst, dazu veranlasst, an meiner Séance teilzunehmen. Wie so viele bist du getrieben von dem großen Warum. Nur dass du dafür bereits eine konkrete Frage formuliert hast. Eine universelle Gleichung mit allen persönlichen Variablen. Andere haben das Rechnen noch nicht einmal gelernt, manche werden es nie lernen.»
    «Gibt es auch welche, die die Gleichung gelöst haben?»
    Monsieur Samedi grinste. «Wer seine Gleichung gelöst hat, ist nicht mehr in der Lage, anderen das mitzuteilen. Weil das Mitteilen selbst nur den Suchenden vergönnt ist.»
    Nino verstand nicht, und doch hatte er eine flaue Ahnung, was Monsieur Samedi meinte. Dieses Gefühl des Begreifens ließ sich nicht in Worte fassen, es schwebte irgendwo knapp jenseits seines Fassungsvermögens. Er wünschte, er wäre nüchterner.
    «So ähnlich

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