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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ihm mit behandschuhten Fingern.
    «Danke», murmelte er.
    «Er kann dich jetzt empfangen», sagte Noir so leise, dass er der Einzige war, der sie hörte.
    Sie hockten direkt voreinander und hoben die Stifte auf. Sie hatte heute ihr Käppi nicht an, und ihr dunkles Haar war hinter die Ohren gesteckt. Ihre Stirn war makellos. Wenn er nur daran dachte, dass Monsieur Samedi, dieses alte Tier, sie dorthin küsste …
    Als alle Stifte wieder im Fach waren, erhoben sie sich. Geduldig sah sie ihn an.
    «Ich arbeite bis halb neun.»
    «Wir müssen jetzt gehen. Sag deiner Chefin, dass es in Ordnung ist.»
    Er lachte freudlos. «Ich glaube nicht, dass sie sich auf mein Urteil verlassen wird.»
    «Du hast zu ihrem Unterbewusstsein Zugang», sagte Noir ruhig. «Lass sie glauben, was du willst.»
    Er sah sie dümmlich an.
    «Versuch es.»
    «Das ist absurd», flüsterte er, aber er ging Noir bereits hinterher und näherte sich der Kasse, wo Olga Pegelowa gerade die Kundin abkassierte. Als die Frau gegangen war, trat Noir neben Pegelowa, doch die beachtete sie gar nicht.
    «Was los?», fragte sie Nino.
    Er fuhr sich über die Lippen, sah Noir an und seufzte. Das
konnte
er nicht wirklich machen. Er riskierte seinen Job und seine Würde, nur weil sie ihn dazu ermunterte.
    «Ich wollte fragen, ob …»
    «Du musst gehen», sagte Noir bestimmt. «Es ist besser so.»
    «Ich muss gehen», sagte er. «Es ist besser so.»
    Olga Pegelowa kniff die Augen zusammen. «Wie?»
    Noir sah ihn eindringlich an, als könnte sie ihm mit bloßem Blick erklären, was er zu tun hatte.
    Er versuchte sich in Olga Pegelowa hineinzuversetzen. Besonders schwer war es nicht, immerhin stand ihr ins Gesicht geschrieben, was sie empfand: Verwirrung. Ärger. Zweifel an der Geisteskraft ihres Angestellten. Nino atmete aus und trennte sich von der Angst, die ihre Reaktion in ihm auslöste, und stellte sich vor, wie Olga milde zu ihm sagte: «Du solltest jetzt schon gehen. Es ist besser so.»
    «Ich sollte jetzt schon gehen», sagte er vertrauenswürdig. Die Muskeln um ihre geschminkten Augen zuckten und entspannten sich. Die Ahnung eines Lächelns schwamm in ihrer Miene, ein Spiegelbild seines eigenen Gesichtsausdrucks. «Es ist besser so, Olga.»
    Sekunden verstrichen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Dann zog Olga Pegelowa die Augenbrauen hoch und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. «Du solltest gehen, ja? Ist besser so.»
    Er starrte sie ungläubig an, bis auch sie ihn ungläubig anstarrte.
    «Komm», raunte Noir, und erst da wurde ihm klar, dass Olga Pegelowa sich nicht über ihn lustig gemacht hatte.
    «O-okay», stammelte er. «Bis morgen.»
    Olga Pegelowa sah ihm misstrauisch hinterher, als er den Laden verließ.
     
    Wie auf Sprungfedern trat er auf die Straße. Die Sonne schien durch die Wolken, Passanten bevölkerten die Bürgersteige. Er sah auf sein Handy und vergewisserte sich, dass es wirklich erst halb fünf war. Und er hier draußen. Mit Noir.
    «Komm», sagte sie lächelnd, denn er stand mitten auf der Straße und sah sie an wie einen Geist. «Hast du nicht gewusst, dass du das kannst?»
    Er schüttelte den Kopf.
    Als sie im BMW Kombi saßen und sich anschnallten, konnte er immer noch nicht fassen, dass das wirklich gerade geschehen war. Seine Chefin hatte ihn einfach gehen lassen.
    «Das kann doch nicht wahr sein», murmelte er. Immer wieder musste er den Kopf schütteln.
Weil er ihre Gedanken manipuliert hatte
.
    Noir manövrierte den Wagen geschickt aus der Parklücke und bretterte los. «Bestimmt hast du es schon öfter getan.»
    «Nein. Nein, ganz sicher nicht!»
    «Du wusstest vielleicht nicht, dass du es tust, aber du hast es getan. Die Grenzen zwischen dir und anderen sind für dich offen. Du empfängst nicht nur. Ein Teil deiner Gedanken und Gefühle geht auch zu den anderen über, nur dass sie es nicht merken wie du.»
    Er dachte darüber nach. Wie oft hatten sich Mädchen zu ihm hingezogen gefühlt, obwohl er sich gar nicht groß um sie bemüht hatte? Konnte es sein, dass er sie, ohne es zu ahnen,
manipuliert
hatte? Die Vorstellung war so schlimm, dass er sich sofort verbot, je wieder darüber nachzudenken.
    «Kannst du es auch?», fragte er.
    «Nein.»
    «Manchmal erweckst du den Eindruck. Weil du nie an irgendwas Interesse zeigst, so als würdest du schon alles wissen.»
    «Ich weiß noch nicht alles.»
    Er musste lachen. «Noch nicht. Du arbeitest aber dran.»
    «Du arbeitest auch dran.»
    Da hatte sie recht.

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