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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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wusste nicht, dass sie bei dir funktionieren kann. Und dass es meine Aufgabe sein würde.»
    Er seufzte tief. Nino wartete, dass er weiter erklärte, doch vorerst kam nichts mehr.
    Das STYX bremste die drängende Neugier in ihm, schluckte seine Aufregung, und das wäre womöglich beunruhigend gewesen, wenn die Beunruhigung noch zu ihm durchgedrungen wäre.
    Noir kam mit Tellern und Besteck zurück. Es gab dickes, dunkles Fleisch mit einem Salat, der so kunstvoll angerichtet war, dass man kaum wagte, ihn zu essen. Als alles auf dem Tisch stand, betrachtete er einen Moment die Teller und die Wasserkaraffe und den Salzstreuer und stellte fest, dass Noir die Sachen unmöglich in einem Gang hatte herbringen können. Aber er erinnerte sich nicht daran, dass sie zweimal mit vollen Händen gekommen war. Er schüttelte den Gedanken ab. Vergangenheit und Gegenwart schienen immer öfter Teile einer Gleichung zu sein, die nicht aufging, aber darüber zu grübeln führte nirgendwohin.
    Sie aßen, ohne zu sprechen. Monsieur Samedi leerte seinen Teller mit großen Bissen, die er lange, fast meditativ, kaute, während Noir vornübergebeugt mit der Gabel im Essen herumstocherte und gelegentlich eine riesige Portion in sich hineinschaufelte. Nino fragte sich, ob ihre Abendessen immer so trostlos verliefen oder nur, wenn ein Gast da war. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sie ihre kühle Fassade ablegte, sobald sie mit Jean Orin alleine war, und dann nach Herzenslust redete und lachte.
    Als Jean Orin das Besteck beiseitelegte, beendete auch Noir wie auf ein Zeichen ihr Abendessen und warf Nino einen Blick zu. Offenbar wurde erwartet, dass jeder seine Bedürfnisse Jean Orins unterordnete. Er schluckte und senkte die Gabel. Dank des STYX hatte er ohnehin keinen großen Hunger. Er wollte Noir beim Abräumen helfen, doch sie nahm ihm entschieden den Teller aus der Hand.
    «Nein», sagte Jean Orin leise, um ihm zu bedeuten, dass er sitzen bleiben sollte.
    Als er sich zurücklehnte und die Handflächen auf den Tisch legte, war dieser abgeräumt. Noir aber war nicht wiedergekommen, und als Nino einen verstohlenen Blick Richtung Küche warf, entdeckte er sie auch dort nicht mehr. Wie so oft war sie einfach verschwunden.
    «Du hast meinen Namen erfahren. Es ist wohl an der Zeit, dir ein wenig über mich zu erzählen», begann Jean Orin. «Ich bin kein Araber. Obwohl ich eine Weile in Saudi Arabien, in Marokko und im Iran gelebt habe. Meine Vorfahren waren Roma.» Ein Zucken ging durch sein Gesicht, eine ferne Spur der Scham, mit der seine Herkunft irgendwann behaftet gewesen sein musste. «Ich wurde in Paris geboren, aber mit meinen Eltern mehrmals wieder nach Bulgarien abgeschoben. Mein Nachname stammt von der ersten Frau, die ich in Algerien geheiratet habe. Das ist lange her. So viel zu meiner wahren Identität.» All dies sagte er ruhig und emotionslos, und während Nino ihm in die Augen sah, empfing er keine Erinnerung, keine einzige Gefühlsregung von ihm außer jener Spur der Unsicherheit, die seinen Ursprung umgab. Jean Orin hatte alle anderen Verbindungen zwischen den Empfindungen und Tatsachen seines Lebens erfolgreich zerschnitten; seine Vergangenheit existierte nur noch in seinem Kopf, nicht mehr in seinem Herzen. Nino fragte sich, ob schmerzhafte Erlebnisse der Grund für diese drastische Trennung gewesen waren – oder eine übertriebene Angst davor, dass jemand in ihn hineinsah und seine Schwächen erkannte.
    «Ich habe schon als Kind gespürt, dass ich etwas Besonderes bin», fuhr Jean Orin fort, und sein Blick verklärte sich ein wenig. «Ich habe nicht viel Liebe erfahren. Eigentlich gar keine. Ungeliebte Kinder werden aggressiv oder introvertiert bis zu einem Punkt, wo andere Menschen gar nicht mehr in ihrer Realität existieren. Ich habe meine Empathie nicht verloren. Meine Gabe war es, die Menschen zu lieben, ohne von ihnen geliebt zu werden. Warum? Weil ich die Verbindung in mir habe. Ich sah keine Grenze zwischen mir und den anderen. Für mich waren schon immer alle Strömungen desselben Flusses.» Er machte eine Pause, wie um seinen eigenen Worten nachzulauschen. Zufrieden strich er mit der Handfläche über den Tisch, als würde er eine Buchseite umblättern. «Erst später, als mein Lehrer mich fand, erfuhr ich alles über das Jenseits, über die Beschaffenheit unserer Seelen und ihre lebensspendende Funktion. Bis dahin war ich einfach nur ein Junge, der die seltene Gabe hatte zu lieben. Wie du.»
    Jean Orin

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