Noir
war, brachte er vorerst keine Frage zustande, und Monsieur Samedi begann den Dialog.
Er sprang von Frage zu Frage, sodass Nino kaum folgen konnte. Sobald er glaubte, eine Frage-Antwort-Runde verstanden zu haben, hatte er schon die nächsten beiden verpasst; nur Bruchstücke kamen bei ihm an. Aber was er mitbekam, reichte aus, um die Welt auf den Kopf zu stellen.
Ist es Nino Sorokins Schicksal, noch in diesem Jahr zu sterben?
Kann Sorokin sein eigener Gott werden und sein Schicksal durch ein selbstgewähltes ersetzen?
Welche Handlungen seinerseits setzt die Verwirklichung dieser Möglichkeit voraus?
Was muss er aufgeben, und was muss er aufnehmen?
Ist Leben das, was alles und jeden erfüllt und in der Einzahl Seele genannt wird?
Welche Voraussetzungen sind sonst noch nötig, damit Nino Sorokin einen neuen Lebenstropfen, eine andere Seele erhält?
Kann Jean Orin eine erfolgreiche Transplantation der Seelen bei Nino Sorokin vornehmen?
Nino fragte:
Wer ist Jean Orin?
Das Glas glitt zu Monsieur Samedi.
Sie sahen sich in die Augen. Das Glas kehrte in die Mitte zurück, drehte noch ein paar hallende Runden auf dem Holz und blieb stehen.
Nino fühlte, wie er in die kalte, nackte Gegenwart zurückglitt. Er zog sich sofort den Pulli über und schlüpfte in seine Schuhe. Zum Glück begann auch Monsieur Samedi, sich wieder anzuziehen. Er wirkte ratlos, beinahe verwirrt; sein Gesicht sah eigenartig schlaff aus.
«Jean Orin.» Nino sprach den Namen aus, um zu sehen, wie er reagierte: Er hielt im Zuknöpfen seines Hemds inne.
«Es ist spät», sagte Jean Orin mit seiner sanften Stimme, obwohl er nicht auf die Uhr geblickt hatte. «Wir wollen zu Abend essen.»
Das künstliche Licht im Flur blendete Nino nach dem abgedunkelten Raum; er musste die Augen zusammenkneifen. Für einen Moment war er sicher, dass sich jemand an ihm vorbeischob und hastig in einem Zimmer verschwand. Er blinzelte.
Am Ende des Flurs erschien Noir. Wie immer hielt sie eine Zigarette zwischen den behandschuhten Fingern und fing die Asche einfach mit ihrem ausgeleierten Pullover auf. Während Nino sich näherte, fragte er sich, warum sie des Geldes wegen mit einem Mann zusammen war, wenn sie trotzdem noch wie eine Obdachlose herumlief. Nein, Geld konnte nicht der Grund sein. Liebe hielt er ebenfalls für ausgeschlossen – denn wie könnte ein Wesen wie Noir einen Mann lieben, der aussah wie Monsieur Samedi? Es musste irgendetwas anderes sein, das sie an Jean Orin band.
Du kannst es nicht verstehen
.
Als sie die Treppe hinabschritten, stellte Nino fest, dass es draußen fast dunkel war. Auf dem Herd der offenen Küche dampften Töpfe.
Noir ging an die Bar und stellte drei Metallbecher auf ein Tablett, Jean Orin schleppte sich mit schweren Schritten zum Esstisch und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Nach kurzem Zögern setzte sich Nino zu ihm, doch sein Blick folgte Noir, wie sie drei Drinks mixte und auf den Tisch stellte. Jean Orin gab ihm ein Zeichen, sich zu bedienen. Sie tranken, ohne anzustoßen. Es schmeckte stark nach einer sauren Frucht, nach Ingwer und Pfefferminze und, kaum wahrnehmbar, etwas Metallisch-Bitterem.
Auf dem Tablett stand auch eine silberne Dose, aus der ein Röhrchen ragte. Erst hielt Nino sie für eine Zuckerdose; doch dann nahm Jean Orin sie in seine kräftige Hand, führte das Röhrchen ans Nasenloch und schnupfte lautstark.
«Was ist das?»
«Das Einzige, was dein Gemüt nach einer so langen Séance retten kann. STYX .»
Nino nahm die Dose und sah, dass sie mit weißem Pulver gefüllt war. Vermutlich hielt er gerade mehr als zwanzigtausend Euro in der Hand. Er sog die Droge durch das Röhrchen. Dann gab er das STYX an Noir weiter, die es einfach zurück aufs Tablett stellte.
Die Einsamkeit in ihm fiel ohnmächtig ins Wolkenbett der Droge. Wurde unsichtbar. Schwerelos.
«Was habt ihr zubereitet?», fragte Jean Orin, jetzt deutlich munterer als noch vor wenigen Augenblicken. Er sagte
ihr
und nicht
du
.
Plötzlich fiel Nino ein, dass der Araber ja noch einen Helfer hatte – Amor, den farblosen Mann. Er hatte nicht mehr an ihn gedacht, seit er ihn zuletzt vor dem Club gesehen hatte.
Noir glitt von ihrem Stuhl und schlich zur Küche.
Nino wollte den Moment nutzen, um Jean Orin auf die Séance anzusprechen. «Was hatte das eben zu bedeuten?»
Der Araber sah ihm tief in die Augen. Unmöglich zu erraten, was in ihm vorging. «Ich weiß schon lange, dass es diese … Methode gibt. Aber ich
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