Noir
herausstürzen. «Ich habe es mir nicht ausgesucht. Aber es ist meine Gabe. Meine
Aufgabe
.» Er beugte sich über den Tisch zu ihm vor. «Natürlich kann ich nicht jeden neu beseelen. Es funktioniert nur bei Menschen, die offen sind, bei Menschen wie dir. Darum habe ich heute das Glas gefragt, ob es mir gelingen kann. Und es wurde bestätigt. Verstehst du? Ich kann deine Seele, an die dein Schicksal gebunden ist, ins Jenseits entlassen, ohne dass du sterben musst. Und dann kann ich einen neuen Lebenstropfen in dich hineinbeschwören. Du wirst eine neue, frische Seele erhalten, mit einem ungeformten Schicksal.»
«Eine neue Seele», sagte Nino ungläubig. Das alles klang vollkommen absurd.
«Du wirst nichts merken. Ein Tropfen ist wie der andere. Für deinen Charakter, deine Persönlichkeit entscheidend ist nur, wie nah dieser Tropfen noch dem Urquell ist, und bei deinen Voraussetzungen wäre jeder Tropfen nah dran. Verstehst du?»
Nino schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf.
Orin nahm das Kästchen mit dem STYX und genehmigte sich einen weiteren, kräftigen Zug. Dann reichte er es an Nino weiter. Gehorsam setzte er das Röhrchen an sein Nasenloch.
«Hör zu», sagte Orin, schniefte und wischte sich mit den Fingern über die Oberlippe. «Stell dir vor, ‹Seele› und ‹Urquell› und ‹Schicksal› sind nur Begriffe, nur Symbole, um dir etwas sehr Komplexes verständlich zu machen, ja? Tatsache ist, dir ist ein baldiger Tod vorherbestimmt. Weil du das Schicksal nicht ändern kannst, erschaffe ich dir einfach ein neues.»
«Und wie sieht das dann aus?»
«Das hängt von der Liebe ab, die du erhältst, so wie jedes Schicksal. Allerdings würdest du heute bewusster als jedes Neugeborene steuern können, ob und wie du geliebt wirst. Das ist der springende Punkt. Ich würde dich lieben wie einen Sohn, denn genau das wärst du: mein Sohn.»
Nino starrte Jean Orin eine Weile an, während er versuchte, alles zu verarbeiten. Vermutlich müsste er ergriffen, verwirrt oder aufgeregt sein, aber es lag wohl am STYX , dass er Jean Orins Offenbarungen mit so viel Gelassenheit aufnehmen konnte.
Orin legte seine Hand auf Ninos. Die Berührung ließ ihn innerlich zusammenzucken, doch nach außen blieb er ruhig. Schwer und warm ruhte die behaarte Pranke auf seinem Gelenk. Nach ein paar Sekunden wusste er nicht mehr, ob die Hand ihm unangenehm war oder nur die Tatsache, dass er eigentlich nichts dagegen hatte. Eine Weile saßen sie still da. Die Berührung schien zu wachsen, wurde zum Zentrum ihrer Wahrnehmung. Er fragte sich nicht mehr, ob er sie wollte oder nicht, und akzeptierte einfach die Nähe zwischen ihnen.
Dann fiel ihm etwas ein. «Wie würde ich meine jetzige Seele überhaupt loswerden? Ich dachte, das passiert nur, wenn man stirbt.»
«Aber sterben sollst du schließlich nicht. Wir brauchen daher ein Symbol für deinen Tod. Etwas muss an deiner Stelle in den Tod gehen, das dein Leben verkörpert. Ein kleiner Tod.» Orin legte den Kopf schief und musterte ihn mit angehaltenem Atem. «Du musst mit deiner Seele alle Liebe aufgeben, die du jetzt besitzt. In deinem Fall die Liebe zu deiner Schwester.»
Nino zog die Hand weg. Er wollte fragen, was Orin meinte, aber er brachte keinen Ton heraus. Unwillkürlich begann er den Kopf zu schütteln.
«Es gibt nur eine Liebe», sagte Orin eindringlich. «Wir empfangen sie durch Menschen, von denen im Prinzip einer so gut ist wie der andere.»
Nino stieß ein kurzes, keuchendes Lachen aus. In diesem Moment sah er wieder ganz deutlich vor sich, wie Monsieur Samedi das Huhn aufschlitzte. «Ich opfere doch nicht Katjuscha –»
Jean Orin brach in Gelächter aus. «Was? Sie opfern?
Mord
?
»
Er lachte noch immer, aber Nino war ganz und gar nicht zum Spaßen zumute. Obwohl er erleichtert war, mit seinem Verdacht falsch gelegen zu haben, blieb ein mulmiges Gefühl.
«Dann drücken Sie sich doch mal deutlich aus. Was muss denn geopfert werden?»
Orin richtete den Zeigefinger auf Nino. «Ich drücke mich so deutlich aus, wie deine Fragen sind. Verstanden?»
Nino biss die Zähne zusammen und sagte lieber nichts.
«Du wirst die Liebe zu deiner Schwester opfern. Ihr werdet euch nicht mehr erkennen.»
«Warum?», brachte er hervor.
«Weil die Liebe das Seelische anzieht und weil die Liebe das Seelische hält. Alles, was du liebst und was dich liebt, bindet dich jetzt an dein Schicksal. Du musst loslassen – alles. Ihr verliert euch so oder so. Ob du stirbst oder mit anderer
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