Noir
Liebe weiterlebst – eure Wege werden sich trennen.»
Ein Schmerz brach zu ihm durch, der sich nicht einmal vom STYX unterdrücken ließ. Es stimmte, er würde Katjuscha verlieren, wenn er starb. Vielleicht war das besser, als ohne sie leben zu müssen.
Aber es könnte eine andere Liebe geben. Wenn Noir …
Seine Gedanken rissen von selbst ab. Es war zu viel auf einmal. So überfordert hatte er sich zuletzt vor vier Jahren gefühlt, als er versucht hatte, Physik zu studieren.
«Ich muss nachdenken – über alles.»
Orin lehnte sich zurück und zog geräuschvoll die Nase hoch. «Gut. Nimm dir Zeit. Ich erwarte eine Entscheidung, wenn wir uns das nächste Mal sehen.»
Auf dem Heimweg bekam Nino Kopfschmerzen. Er saß neben Noir im Wagen und spürte, wie sich die Flatterigkeit, die das STYX bewirkte, durch die Nachwirkungen des Gesprächs mit Orin zu einem unangenehmen Flimmern verdichtete. Zwischen seinen Schläfen schoss Strom hin und her. Er wollte nachdenken, aber was er wirklich brauchte, um Klarheit zu bekommen, war genau das Gegenteil.
«Ist es das, was du an ihm magst – dass er Menschen ein neues Leben geben kann?» Als sie nichts sagte, murmelte er: «Bewunderung ist doch etwas anderes als Liebe.»
Sie parkte vor seinem Wohnhaus. Der Motor lief weiter. Nino löste den Anschnallgurt und ahnte, wie schwer es ihm fallen würde, die Tür zu öffnen, auszusteigen und sie wegfahren zu lassen. «Wieso weigerst du dich so, mit mir zu sprechen?»
Es schien sie Mühe zu kosten, den Blick auf ihn zu richten, doch sie tat es. Einige Sekunden sah sie ihn einfach an. «Wieso ich?»
«Ich weiß nicht. Einfach so.» Und da, während er ihr stilles Gesicht betrachtete, wurde ihm klar, was für ein einsames Empfinden Liebe war; es hatte fast gar nichts mit der Person zu tun, an die sie sich richtete. Die Liebe bahnte sich wie herabfließendes Wasser unaufhaltsam ihren Weg aus ihm heraus und strömte zu diesem fremden, vertrauten Mädchen hin, ohne dass irgendein Sinn, irgendein vernünftiger Gedanke es lenkten – es gab keinen Grund außer der Gravitation des Schicksals.
«Ich könnte dir sagen, dass es an deiner Schönheit liegt», hob er leise an, «an deiner geheimnisvollen Art, an deinem bemerkenswerten Fahrstil oder der Intelligenz, die bei dir durchschimmert, wenn du mal den Mund aufmachst … aber nichts davon ist der Grund. Die Wahrheit ist, ich denke an dich, die ganze Zeit, und ich habe keinen Schimmer, warum.»
Was dann geschah, dauerte nicht länger als zwei Sekunden, und doch schien die Realität zwischen ihnen zu reißen wie eine Plastikfolie:
Er streckte die Hand aus und strich über ihre Wange.
Als er ihre Haut berührte, kribbelte es in seinen Fingerspitzen, und er erschrak über einen Schmerz, der zu schnell eintrat, als dass man ihn begreifen könnte.
Noir stieß einen erstickten Schrei aus.
Im nächsten Moment hatte sie seine Hand weggeschlagen und war in den hintersten Winkel ihres Sitzes gewichen.
Ihr Atem war laut. Ihr Atem erfüllte den Wagen mit Kälte.
Sie blinzelte, und ein paar dicke, leuchtende Tropfen fielen ihr über die Wimpern.
«Alles okay?», stammelte Nino.
Sie presste die Lippen aufeinander und schluckte. «Aus. Steig aus.»
«Okay.» Als er die Tür hinter sich zufallen ließ, blieb der Maserati mit brummendem Motor stehen. Schließlich beugte er sich hinab und sah durch das Fenster.
Noir kauerte noch immer auf ihrem Sitz und starrte ihn an, als hätte er sie geschlagen. Als er Anstalten machte, die Tür noch einmal zu öffnen und sie zu fragen, ob es ihr wirklich gutging, packte sie das Lenkrad, gab Gas und raste davon.
Nachdem sie verschwunden war, steckte Nino die Hände in die Hosentaschen und setzte sich auf eine Bank. Überall lag buntes Laub und verdeckte den Abfall, der aus den Mülleimern quoll. Die Straße sah aus wie eine Filmkulisse nach Drehschluss, der von Smog und Stadtlicht entzündete Himmel eine Abdeckplane direkt über seinem Kopf.
Er hatte sie berührt, sie hatte geschrien und war in Tränen ausgebrochen. Welche Erinnerung hatte er bloß in ihr geweckt?
Die Antworten waren zum Greifen nahe, das spürte er, aber sie standen gerade so, dass er sie nicht sehen konnte. Wenn Noir doch mit ihm
sprechen
würde. Aber um sie zu gewinnen, musste er ihr Geheimnis selbst lösen.
Er breitete die Arme auf der Banklehne aus und ließ den Kopf in den Nacken sinken. Noch immer blitzte ein aggressiver Schmerz zwischen seinen Schläfen. Er ahnte,
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