Noir
beobachtete ihn aufmerksam, ehe er weitersprach. «Von meinem Lehrer erfuhr ich auch, dass es Liebe ist, die das Seelische anzieht. Im Grunde liegt das auf der Hand. Zwei Menschen lieben sich, und es entsteht neues Leben. Ein Fötus im Mutterleib wird erst beseelt, wenn er von der Mutter geliebt wird. Die Liebe der Mutter ist ein Magnet, der das Leben anzieht und dem Ungeborenen eine Seele verleiht. Selten gebiert eine Frau ein Kind, für das sie keinerlei Liebe empfindet. Geschieht das doch, wartet viel Düsterkeit auf das neugeborene Wesen.»
Er schien kurz in Gedanken wegzugleiten, aber dann räusperte er sich und fuhr fort: «Mein Mentor weihte mich in die Dinge ein, wie ich es nun mit dir tue. Allerdings konnte er sich mehr Zeit lassen als ich mit dir. Weil dein Tod immer näher rückt.»
Nino spürte sein Herz schmerzhaft gegen die Innenwände seines Brustkorbs schlagen. «Was ist eine Transplantation?»
Jean Orin sah ihn wieder so eingehend an, als könnte er die Antworten in Nino heraufbeschwören, ohne sie aussprechen zu müssen.
Für jemanden wie dich, der noch nicht lange mit der Wahrheit lebt, wird es schwer zu glauben sein. Bist du bereit, die Antwort zu glauben?
«Ich bin in der Lage», sagte Jean Orin mit sorgenvoller Miene, «Seelen zu transplantieren.»
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21 .
N ino hörte die Worte, aber sie erreichten ihn nicht richtig. Es klang einfach zu bizarr.
«Man muss die Wälle der Vernunft erst niederreißen und die Gefahr eingehen, sich zu täuschen, bevor Wunder stattfinden können», sagte Jean Orin behutsam, als spürte er, was in ihm vorging.
«Was meinen Sie damit?»
Er legte seine vernarbten Daumen- und Zeigefingerkuppen aneinander. «Eine Seele ist ein Tropfen des unendlichen Lebens, ja? Obwohl jede Seele Teil der Unendlichkeit ist und rückwirkend die Unendlichkeit in sich birgt, musst du sie dir wie eine Flüssigkeit vorstellen, die verschiedene Formen ausfüllt. Diese Formen sind unser Schicksal hier im Diesseits.»
«Formen», unterbrach ihn Nino, hauptsächlich weil er eine Pause brauchte, um mitzukommen. «Und die sind unveränderlich?»
«Gute Frage. Ich habe schon bei unserer ersten Séance gemerkt, dass du ein Talent dafür hast, die richtigen Fragen zu stellen, um zum Kern der Dinge vorzudringen.» Jean Orin lächelte anerkennend. «Nun, was unser Schicksal betrifft: Es scheint von der Liebe bestimmt zu werden, die wir erhalten, und auch von genetischen Faktoren. Ein Mensch, der am Ende einer grausamen oder leidvollen Blutlinie steht, wird nur dann ein sonnigeres Schicksal zugeteilt bekommen, wenn er viel Liebe erhält, also bei anderen Leuten als seinen Blutsverwandten aufwächst. Diejenigen, die in Leid geboren wurden und in Leid leben, sind schließlich selten fähig, zu lieben.»
«Wie kommt es dann, dass ich so jung sterbe? Ich wurde geliebt.»
Jean Orin nickte. «In frühester Kindheit hast du eine Liebe erfahren, die abrupt abriss, nicht wahr? Ebenso abrupt reißt nun dein Leben ab.»
Nino schwieg und dachte darüber nach. Jean Orins Theorie kam ihm zu schlüssig vor – zu verklärt, zu einfach, um wahr sein zu können.
«So einfach ist es natürlich nicht immer», setzte er hinzu, als hätte er wieder seine Gedanken gelesen. «Wie gesagt gibt es diverse Einflüsse, die unser Schicksal bestimmen, und ich kenne längst nicht alle. Aber ich habe entdeckt, dass das Schicksal nicht änderbar ist, jedenfalls nicht durch Willenskraft. Es ist jedoch zu Beginn formbar – von Mächten, die außerhalb unseres Einflusses stehen.»
«An meinem Schicksal kann ich selbst also nichts mehr ändern. Und was ist nun eine Transplantation?»
Orin schloss die Augen, so wie vorhin, als sie die Séance beendet hatten und er so verloren in einem geheimnisvollen Kummer gewesen zu sein schien. «Wie gesagt erfuhr ich durch meinen Lehrer nicht nur, dass ich eine außergewöhnliche Verbindung zum Quell des Lebens besitze. Sondern auch, dass ich eine schwere Bürde trage. Die Gabe, Leben erschaffen zu können.» Er schlug die Augen auf und sah Nino an. Nino sah zurück. Er spürte, wie er die Stirn runzelte.
«Kann nicht jeder Mensch Leben erschaffen? Kinder zeugen oder gebären?»
Orin schüttelte vollkommen ernst den Kopf. «Davon spreche ich nicht. Nicht von Fortpflanzung. Ich kann Seelen ins Diesseits holen. Ich kann Dinge beseelen, Sorokin.»
«Dinge.»
«Menschen!» Er zischte es, ein Geräusch, als würde der Deckel des Himmels abgeschraubt und Regen
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