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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Stunde noch hätte er nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie aus Fleisch oder aus Rauch bestand. Und nun ergoss sich ihr Haar über seinen Schoß, und ihr Atem drang heiß durch seine Jeans, und ihre Finger lagen ihm wie Federn auf der Haut.
    «Vorhin habe ich geträumt. Ich dachte, es wäre echt.»
    Er dachte an Unsterblichkeit, an zwanzig Jahre ohne eine Sekunde Schlaf, an das Wort
Logik
, das plötzlich ganz hohl war. Nur Fassade, hinter der unzähmbares Chaos herrschte. «Was hast du geträumt?»
    «Ich habe mich umgebracht und bin gestürzt. In dich hinein. So hat es sich angefühlt, als wir gefickt haben.» Sie sagte das so arglos wie ein Kind, das die Bedeutung des Wortes noch nicht kennt. Reflexartig strich er ihr über die Ohren, als müsste er sie vor dem Klang beschützen.
    «Ja, ähm, das war ein Albtraum, ich hab komischerweise auch so was Ähnliches geträumt», murmelte er rasch. «Ach, was heißt
komischerweise
? Ich wundere mich über nichts mehr.»
    Sie blickte zu ihm auf. «Es tut mir leid.»
    «Hm?»
    «Dass ich so ehrlich bin. Werde nicht verrückt!»
    Er schüttelte den Kopf, obwohl er sich nicht ganz imstande fühlte, dieses Versprechen zu geben.
    «Ich versteh auch nicht, wie das alles möglich ist.»
    «Wir kriegen es schon raus.»
    Er beugte sich hinab, um sie zu umarmen, und für einen Augenblick sah er ganz deutlich, in was für einer Situation er steckte. Die Wirklichkeit war in tausend Scherben zersprungen, die kein sinnvolles Bild mehr ergaben. Fest stand nur noch, dass er einen Geist liebte.
    «Wieso verlässt du Monsieur Samedi nicht?»
    Sie verkrampfte sich. «Jean ist alles, was ich habe.»
    «Er hat dich zu dem gemacht!» Er sah ihr ins Gesicht. Sie schien es ernst zu meinen.
    Tränen schwollen in ihren Augen an und rollten über ihre Wangen, ohne ihren leeren Ausdruck zu erschüttern. «Er ist der Einzige, der mich sehen kann.»
    «Ich sehe dich.»
    Sie nickte einfach. Auch das war eine Unmöglichkeit, die sie noch nicht bereit waren, ganz anzunehmen.
    «Wenn du echt bist», sagte er mühsam, «dann bist du das Schönste, das schmerzhaft schrecklich Schönste, was ich je gesehen habe.»
    Sie ließ den Kopf hängen, schmiegte sich an ihn und zuckte gelegentlich wie jemand, der immer wieder einschläft und zu sich kommt. «Und wenn ich nicht echt bin?»
    «Dann bist du das schmerzhaft schrecklich Schönste, was ich je gesehen habe.»
    Eine lange Zeit hielten sie sich einfach. Das Glück, sie zu haben, fiel zusammen mit einer erdrückenden Ahnung, dass er nie mehr zu sich selbst zurückkehren konnte. Bald würden sie nichts mehr haben außer den anderen.
    «Ich muss gehen», sagte sie schließlich.
    Er wollte protestieren, wollte ihr sagen, dass sie nie wieder zu Jean Orin musste; aber es gelang ihm nicht. Sie musste selbst entscheiden, wann sie ging.
    «Du nimmst die Treppe nach unten. Da sind keine Kameras.»
    «Was passiert, wenn er es erfährt?», fragte Nino in einem, wie er hoffte, beiläufigen Ton.
    «Er hat keine bösen Absichten.»
    «Und was tut er unabsichtlich?» Argwöhnisch sah er zu, wie sie ihre Handschuhe anzog.
    «Frag nie mehr, als du zu wissen erträgst.» Sie ließ den Aufzug kommen. Als das goldene Licht in die Dunkelheit fiel, glaubte er einen Moment lang, nichts als dieses Licht in den Armen zu halten. Dann hatte er ihr Gesicht wieder. Ihr unbeschreibliches Gesicht, das niemand so sehen konnte wie er.
    «Lass mich nicht so lange warten. Du bist jetzt meine Wirklichkeit.»
    Sie nickte. Dann drehte sie sich um und trat in den Aufzug, und die Türen glitten zu, ohne dass sie sich noch einmal zu ihm umdrehte.
    Abwesend ging er auf das grüne Leuchten des Notausgangs zu, schob die Tür auf, fand einen Lichtschalter. Das Treppenhaus war steingrau und leer. Er lief die Stufen hinab, Stockwerk für Stockwerk, und dachte an Noir. An ihren Atem, an ihren kleinen Mund, an ihre Haut und das, was sie gesagt hatte. Und dass sie irgendwo in der Nähe existierte, getrennt von ihm. Alles davon sprengte seine Vorstellungskraft.
    Als er unten ankam, schlich er unter der Kamera hindurch. Es war ein so bewölkter Tag, dass bereits abendliche Dunkelheit herrschte. Überall leuchteten die Vierecke von Fenstern, und Autos mit Scheinwerfern rauschten an ihm vorbei, doch er war ganz allein auf der Welt. Alles war Kulisse, nur er war noch echt, nur noch er und der Gedanke an Noir.
     
    Katjuscha kam in sein Zimmer, ohne anzuklopfen. Er lag auf dem Bett und hielt seinen Block und

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