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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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stammelte sie.
    Er legte ihr ihren Pullover über die Schultern. Sie nahm das Kleidungsstück, betrachtete es, ohne etwas damit anfangen zu können, und ließ es wieder zu Boden sinken. «Was … Gerade war ich woanders und bin gestorben.»
    «Du hast nur geträumt.»
    «Ich hab geschlafen?»
    «Nicht lange.» Er schlüpfte unauffällig in seine Hose und zog dabei das Handy hervor. Es war nicht einmal eine Stunde vergangen, seit er geklingelt hatte. Sie konnten wirklich nur kurz weggenickt sein.
    Ihre Schultern begannen zu beben, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. Er schluckte trocken. Lieber hätte er alles ungeschehen gemacht, als dass sie jetzt bereute, was passiert war.
    Doch sie gab ein winselndes Kichern von sich. Bevor er fragen konnte, was so lustig war, nahm sie sein Gesicht in die Hände und küsste ihn. «Ich werde es nicht vergessen. Ich werde nie vergessen, wie du dich anfühlst.» Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihr Lachen zu dämpfen.
    «Was meinst du? Das klingt, als würden wir uns nicht wiedersehen.»
    «Aus Erlebnissen werden erst Erinnerungen, wenn man schläft.»
    Er wartete, dass sie weiter erklärte. Als das nicht geschah, fragte er stockend: «Wie lange hast du nicht geschlafen?»
    Sie sah ihn an. Entweder rechnete sie gerade die Zeit aus, oder sie versuchte seine Reaktion darauf zu berechnen. Schließlich drehte sie sich weg. «Ich weiß nicht genau. Ungefähr … ach, ich weiß nicht. Ungefähr zwanzig …»
    «Du meinst doch hoffentlich nicht Tage.»
    «Ich meine Jahre.»
     
    Sie zog sich an, und auch Nino schloss seine Hose, schlüpfte in sein T-Shirt und die Jacke. Als er ihre Handschuhe vom Boden aufklaubte, zögerte er, sie ihr zu reichen.
    «Wieso trägst du die immer?» Es war gewiss nicht die drängendste Frage. Aber wo sollte er anfangen? Wenn sie seit
zwanzig Jahren
nicht geschlafen hatte, wie sollte er darauf normal reagieren?
    Sie nahm die Handschuhe, und eine Weile schien sie unentschlossen, ob sie sie anziehen sollte. Dann sagte sie sehr schnell: «Wenn ich lebendige Dinge berühre oder sie mich berühren, war das früher nur unangenehm, aber es wird immer schwerer. Für mich sind Menschen zu heiß. Und für sie bin ich kalt. Wie ein Zahnschmerz, wenn man in was Kaltes oder Heißes beißt, so fühlt es sich an. Deshalb versteh ich nicht, wieso …»
    Er legte eine Hand auf ihre. Es tat nicht weh. Sie fühlte sich weich und glatt und lauwarm an wie ein geschliffener Stein. Sie starrte darauf wie auf ein Wunder, das beängstigend, vielleicht sogar gefährlich war.
    Seine Hand glitt durch ihren Ärmel ihren Unterarm hinauf, er drückte sie und fühlte ihre Knochen. Ein fast übermächtiges Verlangen stieg in ihm auf, sie noch einmal nackt zu sehen, im Licht. Nicht nur wegen ihrer Schönheit. Er wollte sichergehen, dass unter diesen unförmigen Kleidern tatsächlich ein Mensch steckte – dass sie wirklich ein Mensch war.
Wirklich war.
    «Du erinnerst dich an gar nichts? Seit … Jahren?»
    Er merkte, dass ihre Stimme zitterte, sie schluckte ein Ächzen hinunter. «Irgendwie weiß ich schon alles, aber ich bin nie richtig da gewesen, deshalb ist alles wie, wie eine Geschichte, die nichts mit mir zu tun hat.»
    Er versuchte sich das vorzustellen. Er wollte ihr sagen, dass er sie verstand, dass er mit ihr fühlte, aber das wäre gelogen gewesen. Er konnte es sich nicht vorstellen.
    «Du hast nie geschlafen in der ganzen Zeit.» Er nickte sinnlos. «Weißt du, wie sich Müdigkeit anfühlt?»
    Sie sah ihn beinah mitleidig an. «Es ist sehr dunkel da draußen. Die Erde dreht sich, sie wendet sich immer wieder ab, als könnte sie die Wahrheit nicht ertragen. Der Tag ist eine Lüge. Ich lebe in der Lüge und in der Wahrheit. Ja, ich kenne Müdigkeit.»
    Eine Weile schwiegen beide.
    «Hat er dich zum Geist gemacht, als du gerade geboren wurdest oder …»
    «Ich bin zwanzig. Erst im Schlaf wird aus Erlebtem Erinnerung. Wie sollte ich älter werden.»
    «Dann bist du …» Er fühlte sich schwindelig. «Das ist nur … schwer zu glauben für mich. Also, ich glaube dir schon, es ist nur schwer zu akzeptieren. Du bist … unsterblich.»
    Sie zögerte. «Ich hab es schon versucht. Ich warte, aber der Tod kommt nicht, ich bleibe wach und warte. Ich warte. Und warte. Alles ist ein Traum, der niemals …» Sie legte sich auf seinen Schoß, steckte die Hände unter sein T-Shirt und strich über seinen Bauch. Die Vertrautheit, mit der sie das tat, rührte ihn. Vor einer

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