Noir
drückte auf den zwölften Knopf, sodass der Aufzug abermals zum Stillstand kam. Dann zog er sie in den Flur hinaus. Auch hier herrschte fast vollkommene Finsternis, weder Fenster, noch Wohnungen waren zu sehen, nur ein grünes Leuchten kam vom Notausgang. Es hätte dasselbe Stockwerk sein können.
«Ich lass das nicht zu. Schau dich an! Du weinst doch.»
«Ich hab nie geweint.»
«Du weinst in diesem Augenblick.» Er nahm ihre Hände und zerrte ihr die Handschuhe ab, wobei er immer wieder ihre Fäuste öffnen musste. Es schien eher ein Reflex von ihr zu sein als ihr Wille, sie geschlossen zu halten. Als er es endlich geschafft hatte, führte er behutsam ihre Fingerspitzen an ihr Gesicht und ließ sie die Feuchtigkeit spüren.
Sie starrte auf ihre nackten Hände, dann auf seine Hände, die ihre hielten.
«Ich fass das …» Ihre Hände fuhren sein Gesicht hinauf. Sie fühlten sich an wie aus Wasser. «Ich fass dich an.»
Er küsste sie. Ihre Lippen, ihre Zunge und ihre Zähne kamen ihm wirklicher vor als alles, was er je wahrgenommen hatte.
Als sie diesmal auf den Teppich sanken, waren ihre Berührungen behutsam. Die Zeit bog sich zu einer Spirale. Er befreite sie aus dem Pullover und zog auch sich Jacke und T-Shirt aus. Sie umschlangen sich, Haut auf Haut, und sein Herzschlag fand ein Echo in ihrer Brust, und seine Wärme wurde ihre. Unverständliche Worte kullerten ihr wie Tränen zwischen Küssen aus dem Mund, während ihre Fingerspitzen sein Gesicht, seinen Nacken und seine Haare befühlten, als nähme er erst unter ihren Händen Gestalt an.
Sie streiften alles ab, bis sie nur noch in die Umarmung des anderen gekleidet waren. Im weichen Verborgenen fand er ihren wie zum Kuss gespitzten Mund. Ihre Beine umschlossen ihn. Er versank einfach dazwischen, und sie liebten sich, fast ohne es zu wissen. Wie Träumende, die knapp unterhalb des Wachseins tauchen.
Erst danach kehrte sein Zeitgefühl zurück. Alles brach im Augenblick der größten Ohnmacht in sich zusammen und wurde wieder Teil der Realität. Atemlos hielten sie sich, plötzlich nackt und zitternd auf dem Teppich eines Hausflurs, mit ihren Kleidern ringsum, als wären sie überfallen worden. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und versuchte sie im grünen Schimmer zu erkennen.
Sie japste nach Luft und klammerte sich an seine Hände. «Was – was passiert?»
Er sank auf den Teppich und zog sie zu sich. Sie schien zu seinem Körper zu gehören, war so vertraut wie ein Arm, ein Bein, eine Hand.
«Was passiert …» Schauder durchliefen sie, er spürte es wie in seinem eigenen Inneren. Dann war sie eingeschlafen, und er schloss die Augen.
Ein merkwürdiger Traum empfing ihn. Er war wieder neunzehn und stand mit der Rasierklinge in der Hand im Badezimmer. Ein Gefühl erfüllte ihn, irgendwo zwischen Traurigkeit und Glück. Es war, als hätte er nach den endlosen Monaten der Niedergeschlagenheit plötzlich jegliches Gewicht verloren. Er war ganz leicht. Er war durch eine Wolkendecke gestürzt und schwebte im freien Raum.
Gedankenlos setzte er die Klinge an sein Handgelenk. In dem Moment, als er den Schnitt zu seiner Armbeuge hinaufzog, verwandelte er sich in Noir und beobachtete sie zugleich im Spiegel. Sie war er in einem weiblichen Körper. Sie vollzog an seiner Stelle den Schnitt. Dort, wo ihre Haut aufgetrennt wurde, quoll leuchtendes Blut hervor, doch die Haut schloss sich gleich wieder, sodass der Schnitt nie länger war als zwei Zentimeter. Mehrmals schnitt sie sich die Pulsadern auf, ohne dass ein Kratzer zurückblieb. Dann ließ sie die Klinge fallen und ging aus dem Badezimmer ins Wohnzimmer. Es war nicht mehr die Wohnung, die er und Katjuscha bewohnten. Die Umgebung war ihm unbekannt, obwohl er sie durch Noirs Gedächtnis vage wiedererkannte.
Mit ruhigen Schritten ging sie, ging
er
zum Fenster. Nahm eine große gläserne Vase mit Lilien in die Arme. Warf die Vase gegen das Fenster, dass alles zersplitterte. Kühler Wind rauschte herein. Autolärm, der Geruch von Benzin. Mit einem Schritt stürzte sie, er sich hinaus.
Die Tiefe wurde zu weißem Nichts, doch auf dem leeren Blatt Papier erklang ein Aufprall von Tränen, und ein Gefühl erschütterte ihn, als würden in seinem Nacken zwei hauchdünne Nerven reißen.
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24 .
A ls er aufwachte, stieß Noir einen erschrockenen Schrei aus. Sie musste einen Albtraum gehabt haben, vielleicht träumte sie noch immer mit offenen Augen.
«Was ist passiert?»,
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