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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Treppenhaus, sonst gab es nur den Aufzug.
    «Ich muss mit dir reden», sagte er ohne Umschweife.
    Kaum merklich neigte sie den Kopf, als fehlte ihr die Überzeugung für ein Schütteln. Sie drückte den Liftknopf. Die Schiebetüren glitten auf. Sie trat ein. Nino wollte sie zurückhalten, doch sie riss sich mit erstaunlicher Kraft los, sodass er zu ihr in den Aufzug stolperte. Er fasste sie an den Schultern. Ihr Rücken drückte gegen die Knöpfe.
    «Ich bin nicht wegen ihm hier, und das weißt du. Was war das gestern im Auto? Wieso hast du solche Angst, berührt zu werden?»
    «Es tut nicht weh», flüsterte sie.
    Er war nicht sicher, ob sie mit ihm sprach oder sich selbst. Der Aufzug setzte sich in Bewegung und hielt im ersten Stock. Einen Moment war nur ihr Atem zu hören. Dann glitten die Türen wieder zu, und sie fuhren in den zweiten Stock.
    «Dein Atem ist kalt.»
    «Lass.» Sie formte das Wort fast nur mit den Lippen, ohne es auszusprechen.
    «Es ist wahr, er hat dich so gemacht, zu einem … dasselbe hat er mit mir vor.»
    Sie versuchte sich von ihm zu lösen. Ihre behandschuhten Finger strichen über seine Brust. «Er sieht uns.»
    Sie hielten im dritten Stock. Er schob sie nach draußen, in den dunklen Flur. Teppich dämpfte ihre unbeholfenen Schritte. Irgendwo leuchtete ein Notausgangsschild, sonst gab es kein Licht, keine Fenster. Vielleicht nicht einmal Wohnungstüren. Hinter ihnen schloss sich der Aufzug und rauschte jenseits dicker Betonwände davon.
    «Du … was bist du?» Er hörte seinen eigenen Herzschlag wie Paukenschläge in den Ohren. Ihr Gesicht war nicht mehr als ein Funkeln der Augen, zarte Schattierungen von Dunkelheit. Zwischen dem Pulloverkragen und ihrem kurzen Haar war ihr Hals, ein leuchtendes Stück Nacktheit. Er beugte sich hinab und küsste sie dorthin.
    Sie keuchte. Ihr Atem traf seine Haut irgendwo zwischen Wange und Nacken wie rieselnder Wüstensand, plötzlich wärmer als alles, was er je gespürt hatte. Er legte die Hände um ihr Gesicht, hielt ihren Kopf und küsste ihre Mundwinkel, ihre Lippen, wollte ihren Atem in sich aufnehmen.
    Ihr Körper sackte in sich zusammen, als würde sie ohnmächtig werden. Doch schon im nächsten Moment fand sie neue Kraft, presste ihren Mund auf seinen und drängte ihn gegen die Wand. Verschlungen rutschten sie zu Boden. Ziellos gingen ihre festen Küsse auf ihn nieder. Er berührte ihren Bauch unter dem Pullover. Er war weich und kühl wie gespannte Seide, und sie gab einen Laut von sich, halb Wimmern, halb Seufzen. Ihm war, als würde er auf ihrer Haut Wärme hinterlassen. Der Bund ihrer Hose saß locker, er schob die Finger darunter, und sein Verstand verabschiedete sich mit einem Salto rückwärts ins Bodenlose.
    «Sorokin.» Sie hielt ihn an zwei Haarbüscheln fest und starrte in seine Augen.
    «Ja.»
    Sie ließ ihn los, als hätte sie sich verbrannt, wand sich aus seinen Armen und taumelte zum Aufzug. Ihre Hand schlug gegen den Knopf, der golden aufleuchtete.
    Nino umschloss sie von hinten, vergrub das Gesicht in ihrem geruchlosen, kühlen Haar. Er liebte sie. Er wusste es, und er liebte sie so heftig, dass jeder Versuch, das Fühlen in Worte zu fassen, purem Hohn gleichgekommen wäre. Unter den Kleidern spürte er ihren Brustkorb und ein Herz, das wie ein Tennisball von einer Wand zur anderen prallte.
    Sie stieß ihn von sich, als der Aufzug kam. Das Licht flutete zu ihnen in die Dunkelheit, Noir lief hinein.
    «Komm nie wieder.» Damit drückte sie den Knopf in den siebzehnten Stock, aber er war schneller und zwängte sich in den Aufzug, bevor sich die Türen schlossen.
    «Ich gehe nicht ohne dich. Ich kann dir helfen.» Er hob ihr Gesicht und küsste sie wieder. Nach einem langen Moment drückte sie ihn weg und drehte sich in eine Ecke, wo sie den Kopf hängen ließ und schnaufte. Auch er lehnte sich gegen die Wand. Er hatte sie geküsst, in der Dunkelheit ihren Körper berührt. Er wusste jetzt, dass sie echt war, dass sie unter ihren Kleidern wirklich existierte; und er wusste, dass sie ein Geist war, ein abfüllbares Glas für Jean Orins Grausamkeit.
    Ihre Haut. Ihr Mund. Er musste sich auf etwas anderes konzentrieren, sonst konnte er nicht vor Jean Orin treten. Inzwischen glitt der Aufzug vom neunten Stock in den zehnten. Gleich würden sie oben ankommen.
    Noir, die immer noch in der Ecke kauerte, hob ihre Handflächen und starrte auf die Tränen, die auf dem schwarzen Leder landeten. Sie so zu sehen, war unerträglich.
    Er

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