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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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einen Filzstift in der Hand, obwohl er seit einer Stunde nicht einen Strich gezeichnet und, wie ihm jetzt auffiel, nicht einmal daran gedacht hatte, einen zu machen.
    Er blickte auf, als sie im Türrahmen erschien. Kein Teller halbgegartes Gemüse war in ihrer Hand, und auch keine selbst angerührte Gesichtsmaske. Sie trug noch die schwarze Hose und das Hemd von der Arbeit.
    «Was denn?», fragte er und richtete sich ein wenig auf.
    «Olga hat angerufen.»
    Einen Moment herrschte Stille, während Nino sich in Zeit und Raum orientieren musste und darauf kam, was diese Neuigkeit zu bedeuten hatte.
    «Äh, wann? Ich hab das Läuten gar nicht gehört.»
    «Ich habe bis eben mit ihr gesprochen.»
    «Oh. Was war?»
    Als verströmte sein Anblick eine zwiebelhafte Schärfe, röteten sich ihre Augen. «Das hat Olga mich auch gefragt, Nino.»
    Als er nichts erwiderte, fuhr sie fort: «Du bist einfach gegangen?»
    «Nein, sie hat … gesagt, es ist okay.»
    «Sie hat dich gefeuert.»
    Er schluckte. Im Grunde überraschte es ihn nicht, aber da Katjuscha es offenbar erwartete, runzelte er besorgt die Stirn.
    «Nimmst du deine Medikamente?»
    Er wollte nicken. Aber er erkannte an ihrem Blick, dass sie ihm nicht glauben würde.
    «In der Packung sind fünf Tabletten zu viel drin. Entweder du hast ein paarmal vergessen, sie zu nehmen, oder du hast sie vor fünf Tagen abgesetzt.»
    Er schluckte jetzt, dass man es im Zimmer hörte. Tatsächlich hatte er in den letzten Tagen vergessen, jeden Morgen eine Tablette zu entsorgen. Wie hatte er so nachlässig werden können?
    «Ich, ich hab es vergessen», sagte er und log ja nicht einmal.
    Katjuscha schüttelte nur stumm den Kopf. Dass sie nicht wütend auf ihn wurde, verletzte ihn wahrscheinlich mehr, als jeder Vorwurf es gekonnt hätte. Er war also wieder das unzurechnungsfähige Kind.
    «Mir geht es gut.»
    «Du hast deinen Job verloren. War es so schwer, einfach dazubleiben?»
    «Ich hatte was Wichtiges zu erledigen», sagte er gepresst.
    «Etwas Wichtiges? Was? Musstest du deine Freunde treffen? Oder was?»
    Noirs Seele liegt in meiner Hand. Ich kenne die Zukunft und den Tod.
«Es war wichtig.»
    «Ich hätte es wissen müssen, es ist meine Schuld. Die Arbeit hat dich überfordert.»
    «Nein, daran liegt es überhaupt nicht.»
    «Ich hätte besser darauf achten müssen, wie –»
    «Du hast keine Ahnung!»
    Sie verstummte überrascht. Das Klopfen seines Herzens dröhnte ihm in den Ohren. Er war sicher, dass sie ebenfalls dem Hämmern in ihr nachlauschte.
    «Wenn ich keine Ahnung habe, dann sag mir doch, was los ist.»
    «Kat, diesmal ist das unmöglich. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich hab alles unter Kontrolle.»
    Tränen stiegen ihr in die Augen.
    Nino stöhnte. «Bitte, es ist schon kompliziert genug!»
    «
Was
denn?»
    «Bitte», wiederholte er. «Lass mich in Ruhe.»
    Er hörte sie zittrig atmen. Wieso musste sie vor ihm weinen? Endlich wurde die Tür geschlossen. Obwohl er wusste, dass er das Richtige tat, kam er sich wie ein Feigling vor.

[zur Inhaltsübersicht]
25 .
    E r träumte helle, flüchtige Träume ohne Bilder, die er wie Nebelbänke durchtauchte, gefüllt mit den Gefühlen des Tages: die unglaubliche Erregung über Noirs Nähe, der Schreck und das Unbehagen, die die Begegnung mit Amoke hinterlassen hatte, die Schuld gegenüber Katjuscha und Olga Pegelowa und auch dem alten Mercedesfahrer. Die Angst vor Monsieur Samedi, als er durch das Treppenhaus lief. Alles vermengte sich zu einer Flut, die ihn überwältigte.
    Ohne einen bestimmten Grund kam er in der Dunkelheit zu sich und wusste, dass Noir im Zimmer stand. Sie war lautlos gekommen, hatte ihn allein mit ihrer Anwesenheit geweckt. Mit wenigen Griffen entkleidete sie sich und kam als weißer Schatten unter seine Bettdecke. Ihr Körper war auf eine berauschende Art kühl. Sie schmiegte sich an ihn, und er umschloss sie, ohne sich über ihr plötzliches Auftauchen zu wundern.
    «Ich habe es nicht ausgehalten», flüsterte sie, Laute wie schmelzende Zuckerperlen zwischen Zähnen und Kehle. «Ich muss dich fühlen.»
    Ihre Zunge drang zwischen seine Lippen und leckte die Worte auf, bevor er sie aussprechen konnte. Vollkommene Stille. Ihre Hände glitten über ihn und schienen wie heute Mittag die Form seines Ichs zu bestimmen. Das Bettzeug raschelte und knirschte wie das Weltall, das sich an seinen äußersten Rändern in der Zeit kräuselte. Sie, das Zentrum und die Quelle, sog ihn in sich hinein.
    Sie

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