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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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fassungslos und ungläubig an. Ich zog Aleeke unter meinem Arm nach vorne, schob meine Jacke auf und sagte: »Hier!« Er strahlte sie mit seinem süßen Gesichtchen an. Die Frau geriet außer sich, sie konnte nicht verstehen, wie ich das Kind da hängen lassen mochte. So etwas hatte sie noch nie gesehen und konnte sich nicht vorstellen, dass es dem Baby gefiel. Ihrer Meinung nach musste er ersticken, und sie beschwor mich: »Ich flehe dich an, nimm ihn herunter.«
    Leise lachend, winkte ich ab: »Wir sind schon unterwegs. Bis später dann!« Aber ihre Reaktion machte mir doch zu schaffen. Ich brauchte Unterstützung und Beruhigung, und nicht jemanden, der mir vorwarf, ich würde mein Kind erdrosseln. Sie hätte sich dafür interessieren sollen und mich fragen, wie man es machte – und es nicht von vornherein als einen Brauch aus Afrika nur missbilligend abtun.
Die Zähne und die Zunge sind sich sehr nah – dennoch bekämpfen sie sich.
    (Somalisches Sprichwort)

5

Endlose Flüge

    Das Flugzeug stieß durch die Wolken und landete neben dem grauen flachen Terminal von Amsterdam. Ich lächelte, obwohl es so ein trüber Tag war. Eine große Gestalt ragte am Gate wie ein Pfeiler aus der Menge. Das konnte nur mein Bruder mit seinen ein Meter neunzig sein. Mohammed war mit einem Freund da und er strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Seine Augen hatten die Farbe von Afrika, dunkelbraun und voller Geheimnisse. Als Mohammed damals aus Mogadischu geflohen war, wirkte er ausgehungert – nach Essen, Wasser und Hoffnung. Jetzt war er nicht mehr so dünn, erschien mir aber trotzdem immer noch hungrig. Den Spalt in seiner Unterlippe, die vor Durst gerissen war, sah man nach wie vor – wahrscheinlich würden die Wunden aus dem Gefängnis in Mogadischu niemals heilen. Mohammed trug eine runde Brille und er wartete auf uns wie ein Kamel, dass es am Brunnen an die Reihe kommt.
    Es tat gut, meinen Bruder endlich wieder umarmen und auf Somali begrüßen zu können. Aleeke blickte mit weit aufgerissenen Augen zu seinem großen Onkel auf. Mohammed hob ihn hoch und setzte ihn sich auf die Schultern, Aleeke kreischte vor Vergnügen.
    Dhura stand schon in der Tür, als wir Mohammeds einfache Wohnung eine Stunde außerhalb von Amsterdam erreichten. Meine Schwägerin war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie hatte ein rundes Gesicht und Augen, die leuchteten, wenn sie lachte. Sie ist fast so groß wie mein Bruder – ein schönes Paar! Dhura trug ein langes, somalisches Kleid und einen Schal über dem Kopf. Sie ergriff meine Hände, als ich eintrat und Mohammed uns einander vorstellte. Dann hängte sie sich bei mir ein und zeigte mir die Räumlichkeiten und unser Zimmer. Ich konnte ihre Warmherzigkeit und Stärke förmlich spüren. Dhura ist auch eine Darod und hat zwei Kinder von einem früheren Ehemann, einen Jungen und ein Mädchen. Ihr Sohn heißt Mohammed – der erste Sohn wird immer nach dem Propheten genannt – und ist elf. Zhara, ihre Tochter, ist zehn und wird wohl einmal genauso groß werden wie ihre Mutter. Dhuras erster Mann verschwand irgendwo in den Kriegswirren von Mogadischu, und nicht einmal seine Familie wusste, was aus ihm geworden war. Eines Nachts traf eine Bombe das Haus, in dem sie wohnte, und eine ganze Seitenmauer stürzte ein. Dhura nahm ihre Kinder, floh nach Kismayu und von dort mit dem Boot ins Flüchtlingslager von Mombasa. Als sie in Holland ankam, gab sie es auf, nach ihrem Mann zu suchen, und ließ sich scheiden. Das teilte sie auch den Leuten seines Stammes mit, die einverstanden waren.
    Beide Kinder hatten sanfte Augen und versteckten sich schüchtern hinter dem langen Kleid ihrer Mutter. Lächelnd blickten sie Leeki an. Er hoppelte gleich mit ihnen mit zum Spielplatz, und ich bekam nicht einmal mehr einen Blick zugeworfen. Ich war so glücklich, dass ich fast in Tränen ausgebrochen wäre. Er sollte einen ganzen Haufen Vettern und Cousinen haben, mit denen er streunen und Unsinn anstellen konnte, so wie ich in meiner Kindheit. Er war gleich mit ihnen so vertraut, als kenne er sie schon sein Leben lang.
    Dhura und ich setzten uns, um eine Tasse Kardamomtee zu trinken. »Ich lasse Aleeke ungern allein wegen dieser Reise«, vertraute ich ihr an.
    »Waris«, sie tätschelte mir die Hand, »er wird sich bei meinen Kindern wohl fühlen.«
    »Er hat Ausschlag auf dem Kopf, der nicht heilt«, erzählte ich ihr. Ich rief Leeki, damit sich Dhura sein Haar ansehen konnte. Sie drückte auf eine der kleinen

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