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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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blickten wir einander direkt in die Augen, und ich sah sofort, dass auch er es wusste. Ich habe keine Ahnung, wie ich Gott dafür danken soll, dass er mir ein solches Geschenk gemacht und mir meinen kleinen Bruder wieder beschert hat.
    Am Tag nach seiner Geburt ließen wir Aleeke im Krankenhaus beschneiden. Das ist etwas ganz anderes als Beschneidung bei Frauen. Man sollte die Genitalverstümmelung an Frauen auch nie so bezeichnen, denn es handelt sich nicht um eine Beschneidung. Bei Jungen macht man es aus medizinischen Gründen, hauptsächlich wegen der Sauberkeit. Aleeke schrie, als der Eingriff durchgeführt wurde; aber sobald ich ihn wieder im Arm hielt, beruhigte er sich. Obwohl ich gegen die Verstümmelung der Genitalien bei Frauen bin, gehört es bei Männern dazu. Mein Sohn hat einen wunderschönen Penis. Er sieht gut und sauber aus. Als er mir einmal sagte, er müsse zur Toilette, sagte ich zu ihm: »Das kannst du alleine, du bist jetzt ein großer Junge.« Aber er wollte unbedingt, dass ich mitkomme und ihm dabei zusehe. Sein kleiner Penis war so gerade und perfekt – ein hinreißender Anblick!
    Leider konnte ich Aleeke nicht lange stillen. Er war ein gesundes Baby, bekam aber anscheinend nicht genug Milch. Ständig schrie er, und ich wusste nicht aus noch ein. In meinen riesigen Brüsten musste doch einfach genug Milch vorhanden sein, aber er schrie ununterbrochen. Er machte sich ganz steif und wollte von mir weg. Bei meinen Tanten und meiner Mutter hatte alles immer so einfach ausgesehen, sie kannten solche Probleme nicht. Granny und Dana sagten: »Gib ihm doch die Flasche, es ist wohl besser für ihn.« Nachdem ich drei Tage lang nicht geschlafen hatte, gab ich ihm schließlich ein Fläschchen, und er trank es in der Tat problemlos. Danach brauchte ich nicht mehr zu stillen, weil er zufrieden und satt war. Granny behauptete, Fertigmilch sei einfach besser für Säuglinge, und ich wollte mich nicht mit ihr darüber streiten; schließlich ging es nur darum, dass mein Sohn glücklich und zufrieden war.
    Wenn meine Mutter zum Abort gehen oder beten musste, dann übergab sie meinen kleinen Bruder mir, meinen Schwestern oder Tanten. Wir haben keine Kinderstühlchen, Babysitze oder Laufställchen. Vor allem Letzteres konnte ich gar nicht fassen! Ein Käfig für ein Kind, als sei es ein Löwe oder Tiger. Ich hielt meinen Sohn immer im Arm und sang ihm somalische Schlaflieder vor, auch wenn ich mich dann nach Afrika sehnte.
Vater Kamel
    geht weit, weit weg.
    Keine Angst, mein Kleines,
    Allah bringt ihn heil
    zurück zu seiner Familie.
    Manchmal sang ich auch dieses Lied:
Vater reist, reist, reist.
    Tante reist, reist, reist.
    Bruder reist, reist, reist.
    Wenn Vater heimkehrt,
    bringt er viele Geschenke mit.
    Wenn Tante heimkehrt,
    bringt sie viele Geschenke mit.
    Wenn Bruder heimkehrt,
    bringt er viele Geschenke mit.
    Alle für den lieben kleinen Jungen!
    Als Aleeke zwei Monate alt war, gab ich ihm das erste Mal aus einer Tasse zu trinken – weil ich das auch in diesem Alter gelernt hatte. Ich goss ein wenig Milch in die Tasse, setzte ihn auf meinen Schoß und drückte ihm die Wangen leicht zusammen, sodass sich sein Mund öffnete. Dann goss ich vorsichtig ein oder zwei Tropfen in seinen Mund. Granny sagte: »Nein, Waris, er ist noch viel zu klein, um aus einer Tasse zu trinken.« Na, das ist ja interessant, dachte ich, wo er es doch schon recht gut kann. Aber großzügig überließ ich ihn ihr und dem Babyfläschchen.
    Als sie sah, wie ich ihn mit einem warmen Waschlappen auf meinem Schoß wusch, bot sie an, mir zu zeigen, wie ich ihn »richtig« baden sollte. Granny hielt es für besser, den armen kleinen Kerl in die Geschirrspüle zu setzen! Leeki bekam Angst und schrie wie am Spieß, als sie ihn in das Metallbecken tauchte. Er strampelte mit Ärmchen und Beinchen, bis ich ihn nahm und durch das Wasser schwenkte.
    Wenn sie ihre Kinder gewaschen hatte, nahm meine Mutter immer
subaq ghee
, eine Art Butter, um sie einzureiben. Wenn Mutter genug Ziegen- oder Kamelmilch hatte, goss sie sie in ihren
dhill
, den Milchkorb. Ein
dhill
ist ein langer, ovaler, so fest gewordener Korb, dass kein Tropfen, nicht einmal Schweiß, hindurchringt. Zu einem U gebogene Äste dienen als Griffe und Verschluss. Mutter band den Korb fest zu und ließ ihn dann ein oder zwei Tage lang stehen, bis die Milch so dick wie Jogurt war. Sie legte eine kleine Decke unter den Korb, sodass er geschüttelt werden konnte. Den ganzen Tag lang

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