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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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wissen, worüber alle so lachten. Die Frauen lachten vor allem darüber, dass ich in Somalia Selbstvertrauen gelernt hatte, aber ich hielt ihnen vor: »Fragt doch meine Brüder! Meine Brüder wissen, wie ich bin und wie ich als Kind war. Oder fragt meine Eltern, auch sie kennen mich.«
    Mein Vater warf ein: »O ja, wenn sie ausrief, ‘diese Frau ist ein Felsblock’, dann konnte man ihr nur ihren Willen lassen, diesem Sturschädel!« Alle lachten darüber, vor allem mein Onkel Achmed.
    »Bist du hergekommen, um dir einen Ehemann zu suchen?«, beharrte Nhur. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass ich nicht verheiratet war. Aber immerhin hatte ich Geld, musste nicht betteln.
    Ihre Frage verneinte ich. »Keineswegs! Ich bin zwar nicht verheiratet und habe ein Kind, aber einen Mann brauche ich eigentlich nicht. Wenn ich jemanden finde, der mir gefällt, dann kann ich immer noch übers Heiraten nachdenken. So bin ich eben.« Abweisend verschränkte ich die Arme; es kümmerte mich wenig, was sie von mir dachten.
    Mein Vater bestätigte: »Du bist, wie du bist!«
    »Entsinnst du dich noch, wie du zu mir gesagt hast, ‘du bist keine von uns, ich weiß nicht, von wo du stammst’?«, half ich seinem Gedächtnis auf die Sprünge. »Du sagtest, du wollest mich loswerden. Weißt du das noch?«
    »Ich glaube schon«, gab er zu. Er drehte den Kopf in meine Richtung, und ich hörte an seiner Stimme, dass er es bedauerte, seinerzeit so mit mir geredet zu haben. Auf einmal schwiegen alle – was daran lag, dass ich die Einzige aus meiner Familie bin, die vollkommen auf eigenen Füßen steht. Und darauf bin ich sehr stolz.
    Dann begann ich, meinen Eltern zu erklären, was Kleiner Onkel mir angetan hatte, als ich ein Kind war. Mein Vater fragte immer wieder: »Was hat er getan?« Weder er noch meine Mutter konnten sich an diesen schrecklichen Tag erinnern. Ich schilderte jenen Nachmittag, als Kleiner Onkel mit mir zu den Ziegen gegangen war.
    Ich brachte die Worte kaum über die Lippen. Mein Herz klopfte heftig, und ich begann zu schwitzen.
    Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, dass er dich belästigt hat, Waris. Was redest du da?«
    »Ich kann nur wiederholen, dass er ein böser Mann war.«
    Vater sagte: »Kind, ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.« Er entsann sich nicht einmal des Kleinen Onkels, obwohl ich ihm erklärte, dass sie ihn zu uns ins Haus geholt hatten. Ein Mann, dem sie vertrauten, hatte mich missbraucht.
    Mama bemerkte: »Wir wissen nicht, was mit dir geschehen ist. Wir haben Kleinen Onkel seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.«
    »Hoffentlich ist er tot und zur Hölle gefahren!«
    Meine Eltern regten sich über meine wütenden Worte auf. »Das ist nicht nett von dir«, meinte meine Mutter und strich mir tröstend übers Bein. »Was sagst du da nur?«
    Letztendlich hatte es keinen Zweck, die alte Geschichte wieder aufzurühren. Hier am Feuer würden meine Eltern zu diesem Tabuthema sowieso nichts sagen, weil einen dann vielleicht ein
djinn
in den Mund schlüpft und sich auf die Zunge setzt. »Ihr könnt es euch zwar nicht vorstellen, trotzdem war es sehr schlimm für mich«, endete ich und schwieg dann. Ich mochte nun auch nicht mehr darüber reden. Wir sprechen im Grunde nie über solche Dinge. Das lange Schweigen jedoch tröstete mich. Zumindest hatten meine Eltern begriffen, dass Kleiner Onkel ihrer Tochter etwas Schreckliches angetan hatte. Es gehört zu den schlimmsten emotionalen Schmerzen, sexuell missbraucht zu werden – doch alle ignorieren es. Lange Zeit sagte niemand etwas, und Mama tätschelte mit besorgter Miene mein Bein. Eindringlich forschte sie in meinen Augen, als wolle sie dort den Schlüssel finden, und was sie sah, betrübte sie. Aber sie würde mir keine Fragen stellen... eher würde sie sich die Zunge abbeißen. Wenn man nicht über Sex reden darf, dann näht man die Mädchen eben besser zu, weil sie dann nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Manchmal sind Schmerzen aber auch ein Geschenk, und ich glaube, dass Allah mir ein Geschenk gemacht hat. Ich wusste, wo meine Kampagne gegen die Genitalverstümmelung an Frauen anzusetzen hatte. Frauen mussten über Sex aufgeklärt werden, und Männer sollten über den weiblichen Körper genauso Bescheid wissen wie über ihren eigenen.
    Meine junge Cousine Amina unterbrach meine Gedanken. »Kannst du für mich einen Brief mit nach Amerika nehmen?«
    »Amerika ist groß, ohne Adresse klappt das nicht.«
    Nervös zupfte

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