Nomadentochter
sie an ihrem Kleid. »Ich habe die Adresse, und ich gebe sie dir später.«
»Wer lebt denn da?«, fragte ich neugierig.
»Mein Mann ist dort«, erwiderte sie leise, ohne mich anzublicken.
»Was macht dein Mann dort?«, drang ich kopfschüttelnd in sie. Sie murmelte etwas, und ich dachte, dass sie wahrscheinlich keine Ahnung hatte, was er trieb. »Wie lange seid ihr schon verheiratet?«
»Vier Jahre«, erwiderte sie. Ich konnte es kaum fassen – sie sah nicht älter als sechzehn aus.
»Hast du Kinder?«
»Nein. Er hat mich geheiratet und dann verlassen. Ich hoffe, er kommt bald zurück und holt mich hier weg.«
»Warte nicht auf ihn!«, riet ich ihr. Ein paar Leute keuchten auf, und meine Mutter schüttelte missbilligend den Kopf. Also willigte ich ein, den Brief mitzunehmen, um nicht noch mehr Ärger zu verursachen.
Die meisten meiner Vorstellungen fand meine Familie seltsam. Meine Cousine sagte: »Waris, du redest wie ein Mann, und du benimmst dich, als seist du sehr stark.«
»Du kannst auch stark sein! Schließlich bin ich ebenfalls hier aufgewachsen, genau wie du.« Wieder lachten alle. Ich kam mir vor wie eine Lachnummer. Die Leute folgten mir auf Schritt und Tritt. Das hatte wahrscheinlich zwei Gründe. Zum einen glaubten sie, ich sei reich, und zum anderen fanden sie mich verrückt und lustig. Trotzdem war ich stolz und dankbar dafür, in meinem Dorf sein zu können – endlich hatte ich es geschafft, zurückzukommen. Immer wieder dankte ich Allah. Wundersamerweise hatte ich nicht nur meine Mutter, sondern auch all diese Vettern, Cousinen, Neffen und anderen Verwandten wieder gefunden, die sich nun hier um mich scharten.
Am wichtigsten war jedoch für mich, dass ich mich noch einmal mit meinem Vater auseinander setzen konnte. Mit vielem, was er sagte, war ich nicht einverstanden, und ich erklärte ihm vorsichtig, wie ich die Dinge sah. Wenn er meine Worte nicht verstand, stellte er Fragen. Ich brachte viel Geduld auf, und das gefiel ihm. Ständig witzelte er: »Sag mal, bist du wirklich meine Tochter?«»Wer bist du?«, wiederholte er unentwegt. »Ich habe geglaubt, meine Tochter sei längst tot.«
»Warum?«
»Was kann schon Gutes geschehen, wenn ein kleines Mädchen seinem Vater wegläuft?«, sinnierte Aba. »Du kanntest doch nur deine Kamele und Ziegen. Zuerst habe ich gedacht, die Löwen hätten dich gefressen und die Hyänen hätten dir das Mark aus den Knochen gesaugt. Dann habe ich gehört, du seist in Mogadischu und London, also nahm ich an, du seist Prostituierte geworden. Was hättest du denn sonst tun sollen? Du bist ganz alleine auf einen anderen
hydigi
, einen anderen Planeten, gereist. Kind, du lebst und verdienst dir aus eigener Kraft deinen Lebensunterhalt! Du sprichst voller Kraft und Würde.«
Mein Vater war stolz auf mich, wahr und wahrhaftig! Das machte mich auch stolz, und ich fühlte mich in der Tat stark und voller Leben. Als Kind hat er mich immer geschlagen, und wenn er mich überhaupt bemerkte, dann sagte er nur: »He, du! Hol mir dieses, hol mir jenes! Beeil dich!« Ich hatte immer Angst vor ihm. Als er mich noch mit seinen eigenen Augen sehen konnte, hatte er nur ein schwaches kleines Mädchen im Blick. Jetzt jedoch sah er mich mit den Augen des Herzens.
Allah bah wain!
Gott ist groß.
Eine Tochter ist kein Gast.
(Amerikanisches Sprichwort)
11
Wüstenleben
In den nächsten Tagen fielen jeden Nachmittag schwere Regengüsse. Alle beobachteten, wie sich die Wolken zusammenzogen und den Himmel bedeckten. Die Regenzeit begann, und das Leben im Dorf veränderte sich, aber niemand beklagte sich darüber. Die Hitze war verschwunden und die Luft kühl vom Segen des Wassers. Mitten über die Dorfstraße, noch vor wenigen Tagen eine Staubpiste, schlängelte sich auf einmal ein Fluss. Die kleine Hütte meiner Mutter stand unter Wasser. Alles war durchnässt, selbst die armen, kleinen Ziegen. Sie wussten nicht aus noch ein und versteckten sich zitternd in den Ecken. Mein Bruder Burhaan hob einen Graben um die Hütte aus, damit das Wasser von drinnen abfließen konnte. Alle lächelten und waren glücklich, weil wir den Regen so sehr lieben. Die Kleinkinder plantschten im Schlamm und tranken ihn leider auch, sie würden sicher bald Durchfall bekommen. Die Frauen fingen das Wasser auf der Straße auf und gossen es aus ihren Eimern in einen größeren Behälter, damit sich der Schlamm am Boden absetzte und sie das Wasser zum Kochen und Baden verwenden konnten.
Jeden Morgen
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