Nonstop in die Raketenfalle
gestaltete, allerdings
mit Erlaubnis des Lehrers. Statt Dehnübungen zu machen und Weitsprung zu üben,
hatte sich Tim im Alleingang zu einem 100-Minuten-Geländelauf abgeseilt. Auf
den letzten Kilometern wurde er dabei von einem Unwetter überrascht.
Ohrenbetäubender Donner, Hagelschauer im Sommer und rings um Tim schlugen die
Blitze ein wie Granaten. Hagelkörner waren dabei — so groß wie Tennisbälle. Tim
wurde dreimal am Kopf erwischt, blutete aus einer Platzwunde und rettete sich —
schon in Sichtweite der Stadt und nur vier Querfeldein-Kilometer von der
Internatsschule entfernt — in eine baufällige Feldscheune. Und dort, zu Tims
Überraschung, hockte Leon Traubisch, schuldbewusst wie ein Hühnerdieb, den man
ertappt hat, mit dem gackernden Federvieh unter dem Arm.
Leon schwänzte. Er hatte seinen
Schulrucksack bei sich und einen 600-Seiten-Horrorroman, mit dem er sich die
Zeit vertrieb. Hier sei er immer, sagte er, wenn er angeblich krank war. Null
Bock auf Unterricht. Die Entschuldigungen, sagte er, schreibe er selbst auf
Mutters Computer. Und ihre Unterschrift könne er perfekt nachahmen. »Wenn ich
unterschreibe, sieht’s echter aus als bei ihr.« Er bat Tim, ihn nicht zu
verpfeifen. Der TKKG-Häuptling redete ihm ein bisschen ins Gewissen. Leon
gelobte, sich zu bessern. Aber daraus wurde nichts; und Tim hatte andere
Probleme, um die er sich kümmern musste.
»Gut, dass ich dich erreiche«,
sagte Emma. »Mein Chef möchte dich sprechen. Aber schalt danach nicht gleich
aus. Ich habe auch noch was auf dem Herzen.«
»Gebongt«, erwiderte Tim und
wurde von einer Ahnung beschlichen.
Dann war Dr. Artfeyn am Rohr,
stimmlich ein verhinderter Opernbariton, der das Kunstmanagement als Brotberuf
ausübte, aber lieber auf der Bühne gestanden hätte. Tim war ihm schon mehrmals
begegnet und sie hatten sich interessant unterhalten.
»Hallo, Tim. Alles senkrecht?«
»Wie immer, Herr Doktor.«
»Indira hat mir von euch
erzählt.«
»Wahnsinnig nette Person. Von
ihrem Tee kann man träumen. Leider mussten wir das Interview verschieben.«
»Ich weiß. Wenn... äh... die
Sache läuft, seid ihr ja mit im Boot.«
»Darauf freuen wir uns schon.«
»Tim, ich will eigentlich dir
und deinen Freunden nur noch mal einschärfen: Bitte kein Wort zu irgendwem,
bevor alles hier ist — im Hochsicherheitstrakt, wie ich es nenne.«
»Ist doch selbstverständlich.
Indira hat uns schon vergattert.«
»Es wird eine
Jahrhundertausstellung. Unermesslich.«
»Super! Aber Frau Traubisch ist
doch informiert?«
»Sie ist meine rechte Hand.«
»Steht schon ein Termin fest?«
»Wir ziehen vor. Jedenfalls die
Ankunft der Schätze. Indira wollte euch anrufen, hat es aber dann mir
überlassen. Sie steigt heute spätabends in den Flieger. Morgen ist sie in
Delhi, dann geht’s Zug um Zug.«
»Und Sie?«
»Ich fliege morgen hinterher.
Will dabei sein von Anfang an.«
»Guten Flug!«
»Danke! Ich geb dir jetzt noch
mal die Emma.«
Nach kurzer Musikeinlage bei
der Vermittlung ins Vorzimmer meldete sich Leons Mutter.
»Tim, hast du einen Moment
Zeit?«
»Klar doch.«
Er hörte ihren gequälten Atem
und konnte sich denken, was ihr auf der Seele lastete. Genauer gesagt: wer.
Denn nur Sohnemann Leon war ein Thema von Besorgnis erregender Dringlichkeit.
»Tim, ich hatte gestern
zufällig ein Gespräch mit Dr. Ammeiberger«, das war der Klassenlehrer der 8a,
»als ich ihn in der Stadt traf. Er fragte mich ganz freundlich, ob es nicht
besser wäre, Leon mal zur Kur zu schicken. Wegen seiner ständigen chronischen
Krankheiten, seiner ausgeprägten Immunschwäche. Eine Kur an der See oder im
Hochgebirge. Denn das häufige Fehlen beim Unterricht sei eine Katastrophe. Tim,
ich war wie vom Donner gerührt, habe aber schnell geschaltet und mir nichts
anmerken lassen. Denn meines Wissens ist Leon dem Unterricht überhaupt noch nie
fern geblieben. Ich hatte es in der Hand, meinen Sohn auffliegen zu lassen. Und
natürlich habe ich das nicht getan. Danach habe ich ihn mir vorgenommen. Erst
war er bockig, aber dann hat er alles gestanden. Es hat mich fast umgeworfen,
was da zutage kam. Leon schwänzt den Unterricht wie ein Weltmeister.«
»Hm.«
»Ich weiß, dass du es weißt. Er
hat’s mir gesagt.«
»Hm. Ja.«
»Tim, du bist Leons Vorbild. Er
redet sehr oft von dir.«
»Ich schwänze eigentlich nie.«
»Du weißt, was ich meine. Auf
dich würde er hören. Wirklich hören.«
»Leider nicht, Frau Traubisch.
Ich hab’s schon mal
Weitere Kostenlose Bücher