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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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wiedererkennen, das Rauschen der Wellen, die Unberührbarkeit der Disteln, die Ockerfarbe der Flechten auf den zerklüfteten Felsen, den Geschmack der Feigen, die plötzlichen Stürme, das Alter der von Küste zu Küste gewehten Geschichten, die Fische und Krustentiere mit ihren überall gleichen Formen und überall anderen Namen. Während ich schreibe, betrachte ich eine unendlich fein gestrichelte Landkarte von 1786, als die Engländer gerade von hier vertrieben worden waren, ihre Festungen jedoch zurückgelassen hatten. Der größte Hafen der Insel ist darauf eingezeichnet, ein langer, tiefer Schlund voller Namen und Zahlen, Tiefen und Anlegeplätzen, ein strategischer Fleck in einem Meer, das einst das Zentrum der Welt war, Kolonie und Schlachtfeld zugleich. Alle waren sie da, die Phönizier, Iberer, Römer, Araber, Juden, doch wer auch immer kam, er fand die Bauten jener anderen vor, die hier bereits lebten, bevor Homer als erster die Namen der Götter und Helden niederschrieb. Eine Schrift haben sie nicht hinterlassen, statt dessen das, was sie aus dem errichteten, was jeder auf dieser Insel im Boden findet: Stein. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die Mauern, die um mein Grundstück gezogen sind und so wirken, als stünden sie hier bereits seit Jahrhunderten, Mauern aus losen hellgrauen Steinen, ohne Zement dazwischen, Formen von äußerster Bizarrerie, aufeinandergeschichtete größere und kleinere Felsbrocken, die die Erbauer ineinanderfügten, als bestünden sie aus weichem Lehm, die sie jedoch einst mit Gewalt aus demharten Boden gehauen haben, auf dem mein Haus steht. Milliarden von Steinen müssen so herausgeschlagen worden sein, denn jedes Flurstück auf der Insel ist von diesen Mauern umgeben, wodurch sie einem späten Echo der prähistorischen Bauten gleichen, in denen jene Unbekannten ihr rätselhaftes Leben geführt haben, Gemeinschaftshäuser, Grabkammern, tempelartige Konstruktionen, für die riesige Steinblöcke aufeinandergetürmt wurden, ohne daß jemand wüßte, wie. Auch wen sie angebetet haben, wissen wir nicht, nur, daß die Ausmaße der Steine auf die Kenntnis mathematischer Grundsätze schließen lassen, auf einen bewußten Umgang mit Maß und Harmonie. Ob diese megalithischen Monumente auch eine astrologische Bedeutung hatten, ist nicht sicher, doch wenn man einmal zu nächtlicher Stunde vor einem dieser talayots oder taules unter dem dicht beschriebenen Buch des Himmels gestanden hat, zweifelt man eigentlich nicht daran. Später kamen die paläochristlichen Basiliken, die Tempel, die Moscheen, die Synagogen, eine Landschaft aus Erinnerungen, eine Bastion von unermeßlichem Alter, die sich gegen feindselige Fremdlinge und Piraten schützen mußte, eine Küste voller runder Wachtürme, auf denen bei Gefahr oder bei Sichtung unbekannter Schiffe Feuer entzündet wurden, die, tagsüber mit Rauch und bei Nacht mit ihrem Schein, die Kunde von nahendem Unheil von Turm zu Turm weitergaben. Wenn ich an meine Insel denke, denke ich an ein mächtiges steinernes Schiff, aber wenn ich auf diese alte Karte schaue, auf der der größte Naturhafen des Mittelmeers eingetragen ist, gleicht sie eher einem prähistorischen Monster mit einem Horn an der Stirn und einem am Hinterkopf, mit dem es auch nach hinten angreifen kann. Weil ich schon so lange Jahre hier bin, kenne ich jeden Meter dieser Hörner und weiß, wie sie in Wirklichkeit aussehen, harter, trockener Boden an einer Steilküste. Das Maul des Monsters ist schmal, große Schiffe müssen hier vorsichtig manövrieren, und auf beiden Seiten liegen die Festungen der Spanier und der Engländer mit ihrenmachtlos gewordenen Kanonen. Ich lese die Namen der Inseln im Hafen, Insel des Königs, Insel der Quarantäne, Bucht der Griechen, und dann, weiter entfernt, Bai von San Esteban, Bucht von Bini Saida, Insel der Luft. Auf der Karte sind Zelte und Stellungen eingezeichnet, Armee-Einheiten von Katalanen und Dragonern, Batterien und Klöster, Hänge und Obstgärten, die alten Straßen, auf denen ich heute noch gehe, zwischen mit feinster Feder gestrichelten Hügeln. Alles will etwas erzählen von Schlachten, Belagerungen, Niederlagen, Tod und Verderben. Rufen und Flüstern in sämtlichen hier einst gesprochenen Sprachen, immer wieder übertönt vom Geräusch des Meeres, über das die Feinde kamen und wieder davonfuhren, kamen und blieben, die Geschichte einer Insel.

Poseidon XVI
    E inige deiner Privilegien haben wir übernommen. Wir können fliegen.

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