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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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anderen Seite der Welt, August und Winter. Das Café heißt Nilpferd, auf einem Podest in der Mitte steht ein Exemplar aus Stein, so groß wie ein stattlicher Hund, weiß und glänzend. Es ist ein Raum, wie es ihn früher in Europa gab, ein Ort, an dem gelesen, gedacht, phantasiert wird, an dem Männer sich miteinander unterhalten und eine Zeitschrift gründen. Draußen ist es grau. An einem weit entfernten Tisch sitzt jemand und schreibt, aber das bin ich. Bus 29 fährt vorüber, wie in manch anderer Stadt. Hier ist er violett. An der gegenüberliegenden Straßenecke ist noch ein Café. Ich weiß nicht, warum ich nicht dort Platz genommen habe. Es ist ein Spiegelbild dieses Cafés, vielleicht sitze ich da ja auch. Durch das Fenster sehe ich einen Park, ein heroisches Standbild, hohe Bäume, die hier im Winter nicht kahl werden. Die Kellner sind schwarz gekleidet, mit langen schwarzen Schürzen, als trügen sie Trauer. Zehn Männer sitzen im Café, drei Frauen. An der Wand hängt ein leicht gekippter Spiegel, so daß ich die Welt draußen noch einmal sehe, diesmal als schiefe Ebene. Die Buchstaben der Zeitung auf dem Nebentisch berichten lauthals vom Hexentanz der Börse. Die Straße vor dem Fenster ist mit kleinen Steinen gepflastert. Dazwischen Straßenbahnschienen, mit Asphalt zugeschmiert. Die Bahn muß hier einst um die Kurve gefahren sein, doch jetzt enden die Gleise im Nichts. Dennoch höre ich das Geräusch dieser um die Kurve kommenden, nicht mehr existierenden Straßenbahn, ein Geräusch in Sepia, wie auf alten Fotos. Ein Mann mit einemkurzen schwarzen Bart betritt das Café. Vielleicht hat er vor einer Stunde einen Mord begangen. Drei andere Männer erheben sich, er umarmt einen nach dem anderen. Ich weiß nicht, warum ich darin ein gutes Zeichen erblicke. Die Frau in Blau wird angerufen, sie hält sich eine Hand seitlich an den Mund, damit hier niemand hört, was sie sagt. Ich bin immer irgendwo anders. Die beiden jungen Männer, die die ganze Zeit hinter mir Karten gespielt haben, verlassen jetzt das Café. Als ich gehe und mich noch einmal nach meinem leeren Stuhl umblicke, ist es nicht sicher, daß ich dort gesessen habe.

Hesiod
    E r hat es wirklich geglaubt, der Dichter, der ein Ackersmann war, ein Hirte. Was für ein Tag war das, der so anders sein sollte als alle anderen Tage? Das Bild kenne ich aus Spanien, man kann es dort noch immer sehen, ein Hirte mit seinen Schafen. Sie ziehen einen niedrigen Hügel hinauf, der Mann ein wenig abseits mit seinem Stock, die Herde mit gesenkten Köpfen, am strohfarbenen Gras kauend, durch ihr langsames Vorwärtsgehen verändert das Feld seine Farbe, die rote Erde kommt zum Vorschein, Rost ist jetzt der Grundton. Die Farbe der Schafe und Lämmer leuchtet vor dem Hang, der Blick des Hirten folgt dem Hund, der große Kreise um die Herde zieht, das wissen sie, eine Bewegung in der weiten Landschaft, die Ewigkeit nachahmt, Tage als Wiederholung ihrer selbst, Schafe, Hirte, Hund, die längste Mahlzeit, die nie beendet wird, Fressen, das sich mit unendlicher Trägheit voranbewegt, Raum als Uhr mit dem Hier, an dem die Herde vorbeizieht, als einzigem Zeiger. Und dann, eines Tages, geschieht es. Der Hirte, der ein Dichter war, hat es in einer Schrift niedergeschrieben, die ich noch lesen kann, die Musen sind ihm erschienen, dort, am Fuße des Berges Helikon, als er seine Schafe weidete, so schreibt er. Diesen Frauen, die Töchter eines Gottes sind, gehört der große, heilige Berg, er weiß, wer sie sind, unberührbar, ebenfalls heilig, sie tanzen auf weichen Füßen um die dunkelviolette Quelle und den Zeus-Altar, sie dürfen sich dem Heiligsten nähern. Neun an der Zahl sind es, sie umringen ihn auf dem Feld, der Klang ihrer Stimmen ist nicht von dieser Welt, sie singen von Zeus, der ihr Vater ist, von Artemis, Poseidon, von der Morgendämmerung, der Sonne, dem Mond, von der schwarzen Nacht, mitder er wie kein anderer vertraut ist, wenn er bei seiner Herde schläft und den stets geheimnisvollen Geräuschen des unsichtbaren Lebens um ihn herum lauscht. Ein Lorbeerbaum steht am Rande des Feldes, leicht wie Wesen ohne Gewicht sind sie mit ihm in ihrer Mitte dorthin getanzt, sie pflücken einen Zweig und geben ihn ihm, und in diesem Augenblick, als er dort steht mit dem noch duftenden Zweig in der Hand, spürt er, wie durch ihren Atem ein göttliches Gedicht entstanden ist, das er aussprechen muß, ein Gedicht über die Götter, die ewig sind, und über die Frauen, die ihn

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