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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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Wir können die Stimmen Verstorbener hören, mit Menschen am anderen Ende der Welt sprechen, die Paläste unserer Feinde von der Luft aus in Augenschein nehmen und dieses Bild unseren Verbündeten schicken, wir können in Gehirne schauen und sehen, wo das Gedächtnis wohnt, alles, was ihr als Wunder bezeichnet hättet. Wir wissen, welche Säuren für unsere Wahrnehmungen verantwortlich sind, daß Angst sich nicht von den Empfindungen des Körpers lösen läßt, aber auch nicht vom Geist, da dieser nun einmal den Körper als Bühne benutzt, und das Merkwürdige ist, daß alles, was wir wissen, auch für dich gilt. Du bist nun mal ein Gott in Menschengestalt, folglich kann nichts Menschliches dir fremd sein, mit Ausnahme von Krankheit und Tod. Wir haben diese Dinge mit Wörtern aus deiner Sprache benannt, Chaos, Physik, Thermodynamik, Psyche, Neuronen, Gesetze, die ihr noch nicht kanntet, aber manchmal vermutetet. Erinnerst du dich an die Opfer, die man dir früher darbrachte? Dankbar warst du dafür, das immerhin. Du wolltest Aeneas verschonen, weil er so großzügig mit seinen Opfergaben war. Deshalb begannst du einen Streit mit Apollon, und deshalb kamst du Aeneas zu Hilfe, als Achill im Begriff war, ihn zu töten. Erinnerst du dich noch? An Opfer? An den Duft röstenden Ochsenfleischs über einem brennenden Feuer, an das Entzücken darob? Wie das Holz roch, wenn es entzündet wurde? Ein breiter Strand, dahinter dein Meer, die Feuer, die sich langsam drehenden Ochsen, der Genuß der Erwartung, gesteigert durch den Duft? Luft, die durch den Mund eindringt und durch die Nase aufsteigt, wo die winzigkleinen beim Braten entstehenden Gasteilchen den Weg zu den zehn Millionen Rezeptoren finden, die sich in deiner Nase auf der Fläche eines Daumenabdrucks befinden. Ja, auch bei dir, ob du es wußtest oder nicht. Dann entsteht ein Schub ionischer Energie, die sich auf den Weg durch das Elfenbeingebäude des Schädels macht und das Gehirn aufsucht. Auch deines. Wolltest du das wissen, in solchen Details? Vielleicht nicht. Platon, Gorgias, Vergil und Erasmus wußten es auch nicht und haben sich nicht beschwert. Lukrez hatte eine Ahnung davon, konnte jedoch die exakten Wege der Hirn-Körper-Verbindung nicht kennen, genausowenig wie du. Aber weiß man erst einmal Bescheid über die geheime Vermählung, die fortwährend in uns stattfindet, über die Nerven und ihren Volt-Gesang, über den gesamten Elektrohaushalt des Körpers, die Zauberreihen unserer Erscheinung, die Seele, die aus Fleisch besteht und mit ihm zerfällt, den Widerspruch unserer merkwürdigen Anwesenheit, dann kannst du dich doch auch als Gott nur wundern, nicht wahr? Wundern, eine Gabe. Vielleicht ja die Gabe, aus der heraus ihr entstanden seid. Aber wie gesagt, ob du das alles hören willst, weiß ich natürlich nicht.
    P . S . Ich kann es nicht lassen. Wie kommt diese ionische Energie denn in mein Gehirn, wirst du dich fragen. Wirst du dich vielleicht fragen. Ich habe keine Ahnung, was du von alledem hältst. Nicht jeder möchte seinen Körper von innen sehen und sich schon gar nicht im Labyrinth seines Gehirns verirren. Ich habe die Antwort vor Augen gehabt, uns ist das möglich. Sterblich, flüchtig, aber mächtig. Dieses Geruchspartikel bewegt sich mit Hilfe eines Axons fort. Das Wort müßtest du kennen, es stammt aus deiner eigenen Sprache und bedeutet Achse. Eine fadenförmige, faserige Achse als Fortsatz einer Nervenzelle, die elektrische Impulse weiterleitet. Sie können über einen Meter lang werden. Ich will dich nicht weiter damit langweilen, nur noch erzählen, daß es sich hier um innereLandschaften von großer Schönheit handelt. Vergrößere eine Nervenzelle (wir können alles, oder fast alles, sogar das, was früher nur ihr allein konntet – Dinge größer oder kleiner machen), und du siehst eine neblige Landschaft mit fransigen Linien, Baumästen im Nebel, dort ist es Herbst, wenn du genau hinschaust, siehst du mich gehen, ohne Schirm, obwohl es vielleicht gleich regnen wird. Vierhundertfach bin ich vergrößert, 688 Meter hoch, falls ich Polyphem begegne, fege ich ihn hinweg, auch wenn er hundertmal dein Sohn ist. Doch vielleicht muß ich ja um das Vierhundertfache verkleinert werden, um in die Landschaft zu passen, die sich in meinem Kopf befindet.

Nilpferd
    B eliebiger Tag, beliebiger Ort. Damit will ich sagen, ich hätte auch jemand anderer sein können, in einer anderen Stadt, an einem anderen Tag. Aber es ist jetzt, hier, auf der

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