Nooteboom, Cees
um mit dem Arsenal der Mythen auf die Wissenschaft zu blicken, entstehen von selbst Fabeln. Dann ist das Hubble-Teleskop plötzlich der Zyklop mit dem größten Auge der Welt, der weit über die Plejaden und die Milchstraße hinweg in magische Regionen spähen kann, in denen die Mahlzeit des Universums noch immer zubereitet wird. Es braucht ein ganzes Volk von Nullen, um über diese Dinge zu sprechen, Entfernungen in Zeit und Raum, die die Vorstellung erschlagen, bis auf einmal ein Detail auftaucht, das sich im Gehirn festsetzt. Das Foto in der Zeitung ist so schwarz wie Ruß. Im oberen Teil wirbelt eine katholische Turbulenz, ein weißglühender Kern, umgeben von weit ausfächerndem Kardinalspurpur und Bischofsviolett, und schräg darunter ein Inselreich in Grün, die Molukken oder ein zersplitterter Giacometti, nenn es, wie du willst. Das Grün ist der Grund, weshalb man in der Fabel landet. Grün ist menschlich, Frühling, man braucht keine Angst davor zu haben. Der Vatikan ganz oben hat als inneres Heiligtum einen flackernden Quasar, aber weil an diesem vor 200 000 Jahren (was für eine Kategorie ist das, Jahr?) der Schalter umgelegt wurde, können wir ihn nicht mehr erkennen. Alles, was uns vom Sternsystem IC 2947 – das ich seines liturgischen Anscheins wegen also Vatikan nenne – geblieben ist, ist das Nachglühen, doch wer je verliebt war, weiß, das kann immer noch heftig genug sein. So auch hier. Die Gaswolke, die aus dem Vatikan verströmt, fängt das letzteheilige Licht aus der verglühenden Zentrale auf und hat die Gestalt schwebender Inseln angenommen oder die der ebenfalls grünen atavistischen Frau ohne Arme, die die Beine auf dem schwarzen Laken der kosmischen Nacht gespreizt hat. Das Grün in der Wolke rührt daher, weil sich so viel Sauerstoff in ihr befindet, aber das will ich eigentlich gar nicht wissen. 44 000 bis 136 000 Lichtjahre sind sie voneinander entfernt, IC 2947 und seine grüne Gaswolke, die sich, möglicherweise als Zeugin einer Kollision zwischen zwei Sternsystemen, überall sichtbar oder nicht sichtbar, verliebt um das Sternsystem windet. Man müßte einen Ovid beauftragen, diese Liebesgeschichten zu beschreiben, einen Dichter des Alls im Dienste der universalen Weltregierung. Die Biologielehrerin Hanny van Arkel aus Heerlen hat 2007 als Mitarbeiterin an dem Amateurprojekt Galaxy Zoo diese tropisch grüne Gaswolke entdeckt. Sie heißt jetzt Hanny's Voorwerp, das kürzeste Gedicht in niederländischer Sprache, das wahrscheinlich am längsten leben wird.
Poseidon XV
D er Tod kann auch sehr klein sein, so klein wie der Flügel eines Vogels. Das kam mir in den Sinn, nachdem ich bei Homer noch einmal vom Kampf zwischen Aeneas und Achill gelesen hatte, eine Wahnsinnsgeschichte der Vernichtung, in der du eine Rolle spielst, die ich schon als Schüler verachtenswert fand. Achill, der Aeneas töten will, du, der du ihm das verwehrst. Keine Kunst, du bist ein Gott, du hast deinen Zauberkasten immer bei dir. Diesmal griffst du zum Nebel. Verwunderlich, daß es in jeder Zeit ein Früher gibt, in dem die Menschen stärker waren. Aeneas hat seinen gewaltigen Speer geworfen, doch er prallt an Achills Schild ab, der von Hephaistos geschmiedet wurde. Jetzt stürzt sich Achill laut schreiend mit seinem Schwert auf Aeneas, der keine Waffe mehr hat und daher einen Felsbrocken packt, »wie ihn zwei jetzige Sterbliche nicht mehr aufheben könnten«, aber nun greifst du, göttlicher Spielverderber, mit einem undurchdringlichen Nebel ein. Durch diesen kann Achill seinen Gegner nicht mehr sehen, und selbst wenn er es gekonnt hätte, wäre es vergeblich gewesen, denn mit einer einzigen rasend schnellen Bewegung hast du Achills Speer aus Aeneas' Schild gezogen und Achill wieder vor die Füße gelegt, der verstört in einer Wolke dasteht. Du schleuderst Aeneas durch die Luft über das gesamte tosende Schlachtfeld, das Getümmel von Streitern zu Pferde und zu Fuß, das Geschrei, das Blut und die Toten. Wenn man es liest, ist es ein Augenblick absoluter Gleichzeitigkeit, denn in diesen wenigen Sekunden hast du bereits mit Hera und Athene gesprochen, hast gehört, daß die beiden Göttinnen der Ansicht sind, die Trojaner dürften auf keinen Fall vor dem Untergang errettet werden, nicht einmal wenn ihre Stadt eines Tages von den Griechen in Brand gesteckt wird. Du hörst nicht zu, glaubst, dein Bruder Zeus wolle nicht, daß Aeneas getötet werde, weil er das Haus des Dardanos vor dem Untergang erretten müsse,
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