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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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etwas auf dem Tablett eines Kellners auswählt, glänzt von Brillantine. Sein Nachbar beugt sich vor, um der Frau mit den langen, schmalen Händen, ihm schräg gegenüber, besser lauschen zu können, die aber wegen der Musik des anscheinend langsamen Tanzes nicht gut zu verstehen ist. Auch ich verstehe nicht, was sie sagt. Ich könnte es mir ausdenken, schließlich ist das mein Beruf, doch es ist besser so. Ich sehe sie von oben, ein angehaltenes Wirbeln, ihre Gespräche verflüchtigt und aufgelöst in der nervösen Luft, wie auch die Farbe der Blumen verschwunden ist, die Körper auf Friedhöfen von fünf Erdteilen verwahrt sind. Wenn ich mich sehr anstrenge, höre ich Bruchstücke von Wörtern und Sätzen, Masaryk, Rheinland, München, aber schon sind sie wieder verflogen oder verborgen hinter anderen, unschuldigeren Wörtern, Foxtrott, morgen, Champagner, Empfang, Münder geschlossen oder halb geöffnet, vielsprachige Sätze, eingefroren mitsamt ihrer Bedeutung, und zwischen Tanzschritten und Abendkleidung, Flirts und Spionage, zwischen Männern und Frauen die Musik und das Geheimnis der Zeit.

Circe
    1829. Eine Armee ist auf dem Marsch von Moskau nach Arzrum. Schlechte Straßen, Schlamm, sumpfiges Gelände, Abschied von Europa. Der junge Dichter, der den Truppen in einer Kalesche folgt, heißt Alexander Puschkin. Je weiter sie vorstoßen, um so beschwerlicher wird die Reise, regelmäßig bleibt die Kutsche im zähen Morast stecken. Manchmal schaffen sie kaum fünfzig Werst in vierundzwanzig Stunden. Was er sieht, schreibt er nieder. Er sieht, wie die Wälder weichen, das Gras dicker und spröder wird, wie die Hügel in eine Ebene übergehen, die sich in der Unendlichkeit verliert. Herden von Wildpferden, die ozeanische Leere Asiens, die dort lebenden Menschen, die ihre Kibitkas an den Raststationen entlang der endlosen Straße errichten. Kalmücken. Eine Kibitka besteht aus einem geflochtenen Gitterwerk, bedeckt mit weißem Filz. Der Dichter steigt aus seiner Kalesche und betritt eines der Zelte. Es ist früher Morgen, die Kalmückenfamilie sitzt beim Frühstück. In der Mitte der Kibitka brennt ein Feuer, auf dem in einem Topf etwas köchelt. Der Rauch zieht durch ein Loch im Zelt ins Freie ab. Er sieht ein Mädchen oder eine junge Frau, die näht und dabei Pfeife raucht. Er setzt sich zu ihr. Sie ist hübsch. Er fragt nach ihrem Namen, und sie nennt ihn, doch uns bleibt er verborgen, ihre Antwort besteht für den Leser aus drei Sternchen, er behält den Namen für sich, eine Form von Diebstahl. Wie alt bist du? Achtzehn. Was machst du da? Eine Hose. Für wen? Für mich. Sie gibt ihm ihre Pfeife und beginnt zu essen. Ein Tee aus Rindertalg und Salz. Als sie ihm eine Tasse anbietet, will er sie nicht ausschlagen und nimmt einen Schluck, versucht dabei aber, nicht zu atmen. Etwas Widerlicheres hat er noch nie gerochen. Er bittet um irgend etwas, das diesen Geschmack vertreibt, und sie gibt ihm ein Stück getrocknetes Stutenfleisch. Als er es gegessen hat, macht er sich davon, eingeschüchtert von der kalmückischen Verführungskunst flieht er vor dieser Circe, ein Wort, das er in einem knappen Satz niederschreibt: Circe. So hat sie zumindest noch eine Art Namen. Aber darüber hinaus? Was ich gelesen habe, ist ein Augenblick in der Zeit, doch was sie erlebt hat, der aristokratische Herr, der aus seiner Kutsche gestiegen und in ihr Zelt getreten ist, ist zerbröckelt, gelöscht. Warum gibt es keine Materialität der Gedanken, so daß sie noch irgendwo sind? Aus solchen Augenblicken besteht die dunkle Materie der Geschichte der Spezies Mensch, eine äußerst langsame Aufzählung unsichtbar, unhörbar gewordener Gedanken, die irgendwann, irgendwo gedacht worden sind, die in einer Falte, einem Augenaufschlag, einer Haltung, dem Klang einer Stimme Form erhalten haben, weil nichts, wenn es verschwindet, je ganz verschwunden ist, eine schwere Masse nicht feststellbarer Ideen, Ereignisse, lautlos überlieferter Anwesenheit, für die es jedoch keinen Beweis gibt. Acht Jahre, nachdem er dieses Erlebnis zu Papier gebracht hat, wird er in einem Duell getötet. Von ihr wissen wir nicht mehr als die Worte, die er über sie geschrieben hat, daß sie hübsch war, ein Mädchen, eine Pfeife, ein Zelt, die drei Sternchen ihres für immer verborgenen Namens.

Hafen
    M eine Insel liegt im Mittelmeer zwischen Spanien und Italien. Ein Schäfer aus Sardinien, ein Schweinehirt aus Ithaka, ein Fischer aus Korfu, sie würden alles

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