Nooteboom, Cees
umringen, über sie immer als erstes und als letztes. Es ist das Gedicht, das ich jetzt lese in einer Stunde zwischen spätem Nachmittag und frühem Abend. Das Meer ist unruhig, die Bucht leer, die Felsen, auf denen ich sitze, haben noch die Glut der Sonne in sich, die Landschaft auf der anderen Seite ist seine Landschaft, es ist dasselbe Meer, das Wasser zu dieser Tageszeit dunkelviolett wie damals, ich lese die Worte in den Buchstaben, die ich einst, vor über sechzig Jahren, gelernt habe, erinnere mich noch an Wörter, an Wendungen, fast dreitausend Jahre alt ist sein Gedicht, aber er würde hier alles wiedererkennen, wie der Abend sich langsam in Dunkelheit verwandelt, die Bewegungen und das Geräusch des Wassers, wie es vom Meer in die Enge der Bucht strömt, die Wellen wie ein gemächliches, wogendes, nie endendes Rezitieren heller und dunkler Sätze, die jetzt sein Gedicht begleiten. Vielleicht liegt es an der Abwesenheit anderer, jedenfalls haftet allem eine merkwürdige Heiligkeit an, als wäre es für einen Augenblick möglich, daß die Zeit zwischen damals und jetzt aufgehoben ist, daß alles wahr ist, der Hirte, der zum Dichter wurde, der frisch geschnittene Lorbeerzweig, die Bewegung der Frauen im Kreis um ihn, das Buch, das er schreiben würde, der Streit der Götter, ihre verwirrenden Liebschaften und grausamen Geheimnisse, die Worte, die ich lese, bis das Dunkel sie verwischt, Worte, die ich bewahre für das Licht des Tages, in dem sie neu geschrieben werden für den, der liest.
Poseidon XVII
A lle Meere sind dein, davon gehe ich aus, doch ob du dieses hier erkennen würdest, weiß ich nicht. Das Wasser sieht aus wie geschmolzenes Blei, gefährlich. Es will sich bewegen, ist aber kaum dazu imstande. Die Hitze ist atemberaubend, im Wortsinn. Ich habe die Straße zu dem Denkmal überquert, ein Vogelschwarm, der in gerader Linie in den Himmel hinaufwill. Die Sträucher darum herum sind hart und trocken, sie haben große Blätter. Eines davon pflücke ich, um es zu bewahren. Von dem Denkmal sind ein paar Steine abgebrochen, alles befindet sich hier im Verfall. Das spanische Gedicht, das auf einer Marmorplatte seitlich an der Säule des Denkmals steht, ist kaum zu entziffern, es beschreibt einen Augenblick, den Steilflug eines alcatraz , der sich ins Meer stürzt und das Glas des Spiegels durchbricht, mit einem Fisch wieder heraufkommt. Tod am Nachmittag. Ein alcatraz ist ein Baßtölpel, doch dieser Name paßt nicht hierher. Ich schaue vom Gedicht aufs Meer und sehe, was ich lese, eine geflügelte Waffe, die herabsaust, deine Oberfläche durchbricht, zurückkehrt mit dem Opfer, das für einen Moment weiß aufleuchtet in dem anderen Licht. Hast du es auch gesehen? Siehst du alles, wie dieser unser Gott, ohne den kein Spatz vom Dach fallen konnte? Dies ist nicht das Meer von Ithaka, über dieses Meer wurde das Gold indianischer Götter auf einen anderen Erdteil gebracht, für einen Krieg, der ebenfalls mit Gott zu tun hatte, dem unsrigen, dem Einen, dem mit dem bestimmten Artikel. Du gehörst zu einem anspruchsvollen Schlag, stets erscheint ihr in anderer Gestalt, nie mit dem zufrieden, was ihr bekommt, euch gegenseitig vernichtend, verfolgend, saugend an den süchtig machendenGebeten der Menschen. Das Blatt, das ich gepflückt habe, liegt hier neben mir, es ist hart und grün und rund, mit Nerven von der Farbe des Blutes. Ich spreche die Sprache dieses Blattes nicht und weiß doch, was es sagt.
Quilotoa
D as Vergessen ist der abwesende Bruder des Gedächtnisses, ein uneigentliches Paar, das mit großer Willkür über das regiert, was, wie der Mensch glaubt, sein Eigentum ist. Erinnerung ist schließlich etwas, was man selbst gesammelt und gespeichert hat, und sobald man das verliert, ist es, als sei einem etwas gestohlen worden. Vielleicht ist die Kälte daran schuld, vielleicht auch die Höhe der kargen Berglandschaft, daß mir jetzt plötzlich etwas in den Sinn kommt, das ich irgendwann einmal, vor einem ganzen Leben, im Palast meiner Erinnerung (Augustinus) verwahrt und nie mehr wiedergefunden habe. Es geht um Theseus, und daß ich hier, auf fast viertausend Meter Höhe, an ihn denken muß, liegt an dem schmalen Pfad entlang dem scharfen, zerklüfteten Rand des riesigen Kraters des Quilotoa, an dem ich die letzte Stunde verbracht habe, sprachlos ob des Sees in der Tiefe, von dem die hiesigen Indios sagen, er habe keinen Grund. Ich blicke auf die totenstille Oberfläche aus blauem Metall und glaube
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