Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
Vom Netzwerk:
alle Geschichten. Theseus war mit seinem besten Freund Peirithoos übereingekommen, die schönste aller Frauen, Helena, zu entführen und danach Persephone, die Gemahlin des Hades, des Gottes der Unterwelt, aus dem Dunkel des Totenreichs zu befreien.
    Sie hatten einen heiligen Bund geschlossen und, um ihn zu besiegeln, ihre Vereinbarung in den Kraterrand eines Vulkans geritzt. Und natürlich denke ich jetzt, daß es dieser Vulkan hier ist, in dieser entlegenen Gegend Ecuadors, die von Humboldt Straße der Vulkane genannt wurde. So viel Rand habe ich noch nie gesehen, man bräuchte sechs Stunden, um einmal herumzugehen. Wo ich jetztstehe, muß auch Humboldt gestanden haben, viel kann sich seitdem nicht verändert haben.
    Der Weg hierher durch pastorale Landschaften mit armseligen Behausungen am Fuße wettergegerbter Berge, Terrassen, auf denen unter Mühen weniges angebaut wird, merkwürdige, jäh auftauchende Hügel, oben abgeplattet, mit einem Getreidefeld, weiß der Himmel, wie man dort hinaufkommt. In der Nähe des Kraters noch ein letztes Haus, in dem man einen Kaffee bekommen kann. Eine Indiofrau, ein eiserner Ofen, Holz, Asche, endlich Wärme, ein Kupferkessel, Stille. Draußen eisiger Wind, ein Esel, ein paar Männer, dann der Krater. Ich bin auf gut Glück losgelaufen, sehe, daß Pfade auch in die Tiefe hinunterführen, will aber oben bleiben und zwischen Sandgras und Lupinen zu der gegenüberliegenden, unerbittlich steilen Seite blicken, wo der schwarze vulkanische Stein der Kraterwand senkrecht im Wasser steht, in dem keine Fische leben können. Dort muß die Unterwelt sein, in die Theseus mit seinem Freund hinabstieg, um von Hades empfangen zu werden. Freundlich, denn in der Welt der Toten ist jeder willkommen. Zwei Sessel aus Stein bietet der Bruder des Poseidon den beiden jungen Männern an, doch als sie sich setzen, bleiben sie daran kleben, unmöglich, sich zu erheben, sie träumen dahin, als hätten sie Wasser aus dem Fluß Lethe getrunken, vergessen alles. Ihr Leben wird ausgelöscht, der Klang ihres Namens verschwindet, was sie sich vorgenommen hatten, ist nicht mehr, dies ist das Reich des Todes, der ewige Nebel, in dem alles vergessen wird. Herakles wird es sein, der Theseus rettet, Peirithoos sitzt dort nach wie vor in völliger Vergessenheit, dieses Detail hat einst in einem Klassenraum meiner Klosterschule sehr großen Eindruck auf mich gemacht. Der Griechischlehrer war ein Mönch, den wir Pa nannten, warum, weiß ich nicht mehr, vielleicht eine Abkürzung von Pater. Er tat sich schwer mit dem Sprechen, alle Wörter kamen in Form umgekehrter Seufzer heraus, aspiriert, als söge er Luft ein und als wäre das seltsame umgedrehteKomma, das vor einem griechischen Wort ein »h« bezeichnet, bei ihm zu einem Teil seines Wesens geworden. Die Macht der Geschichten und des Erinnerns dem Vergessen entreißen: Als ich weggehe, drehe ich mich ein letztes Mal zum Kraterrand um, um zu schauen, ob ihr Eid dort noch zu sehen ist, doch alles, was ich sehe, ist ein leichter Nebel, der jetzt langsam über die gesamte Landschaft zieht und die winzigen Gestalten einzuhüllen beginnt, die dort unten, dicht beim Wasser, mit dem Maß ihres Körpers das Maß der Welt angeben.

Gewitter
    E s findet jedes Jahr einmal auf dieser Insel statt, das große Gewitter. Daß der Strom ausfällt, gehört dazu, wenn es Abend wird, werden wir plötzlich zu verletzbaren Menschen, die mit Kerzen leben, eine ohnmächtige Form des Feuers, die dem beißenden weißen Licht draußen weit unterlegen ist. Alles erzittert, in solchen Augenblicken hat ein Bewohner dieser Küste einen Gott erdacht und ihm den Namen Erderschütterer gegeben. Ein wild gewordener Drummer hat in seinem Rausch alles ausgeschaltet, den Fernseher, das Radio, den Kühlschrank, den Computer, das Alltagsleben ist nichtig und lächerlich geworden. Jetzt gibt es andere Meister, und sie schreiben sich mit Großbuchstaben, REGEN , WIND , BLITZ , Könige, die die Natur stets in petto hat, um uns mit Gewalt zu demonstrieren, wer hier das Sagen hat. Der Regen sticht mit senkrechten Nadeln herab, man hört das Wasser durch die Abflußrinnen strudeln, der Wind peitscht die Palmen und Oleaster mit langen Hieben, sie werden zu Instrumenten blindwütigen Tosens, die alltäglichen Formen werden auseinandergezerrt, losgerissen, zerfetzt, das ist kein Rauschen mehr, sondern Schreien in Todesnot. Am schlimmsten ist der Blitz, gleichzeitig mit der antiken Gewalt des Donners, am Himmel

Weitere Kostenlose Bücher