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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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wird ein Text in Kodeform geschrieben, gotische, sich bewegende Runen, wenn wir sie lesen könnten, würden sie von Ohnmacht und animalischer Angst erzählen, von Gefahr. Die Elektrizität selbst ist es, die uns etwas über unsere beschränkte Macht sagen will, die in eisigem Weiß die Möglichkeit eines Verhängnisses für uns an den Himmel schreibt und uns zu bangem Lesen verurteilt, zum Bewußtsein völliger Abhängigkeit. Als es vorbei ist, fahre ich durch große Pfützen zur Küste, wo die Brandung wüst an die Felsen schlägt. Der Schriftsteller in der Ferne ist noch längst nicht fertig mit seinem Werk, am Horizont, wo die anderen, unsichtbaren Inseln liegen müssen, erscheinen seine letzten Berichte: daß das nicht alles war, daß er uns für dieses Mal gehen läßt, jederzeit aber zurückkommen kann, ein grausamer und unnahbarer Meister, der weiß, wo wir wohnen.

Tiergarten
    U nmögliche Liebe zwischen Menschen kennen wir, doch unter Tieren herrschen andere Gesetze, nach wie vor geheimnisvoll, und sei es nur, weil sie nicht darüber schreiben. Es ist ein Spätnachmittag in dieser Stadt, in der es den Tieren nicht viel besser geht als den Menschen. Verfall, aufgerissene Gehwege, überall Gelump, das weggeräumt wird und sofort wieder nachwächst. Die Tiere scheinen sich nicht groß darum zu kümmern. Ihre Käfige sind alt, die Gitter rostig, die künstlichen Felsen verschmutzt, die Farbe abgeblättert, das Wasser trübe und dunkel. Der Eisbär wirkt überraschend weiß in seiner ungepflegten Bühnendekoration, aber ich habe gelernt, daß die Haare seines Fells nicht weiß sind, sondern durchsichtig, um das spärliche Sonnenlicht des hohen Nordens besser einzufangen. Der Kondor hängt wie ein ausgefranster Lumpen unter seinem Himmel aus geflochtenem Eisen und weigert sich, die mächtigen Schwingen auszubreiten, die weißen Löwen, aneinandergelehnt, blicken durch uns hindurch. Adler, Löwen, Tiger, ich spaziere zwischen den lebenden Emblemen umher, sehe das Nilpferd aus dem Café von gestern wie eine hundertfach vergrößerte Ausgabe seiner selbst, ein Überlebender. Diese Tiere können nicht mehr existieren, unmöglich die Aufgabe, ihre gewaltigen Körper sind vergänglicher als der eines Spatzen, sie gehören nicht mehr hierher. Immer wenn mir die Welt zuviel wird, muß ich zu den Tieren, die aufdringliche Deutlichkeit der Menschen prallt an ihrer Undurchdringlichkeit ab. Blicke einer Eule fünf Minuten in die Augen, und du bist dir nicht mehr sicher, wer du bist. Ich sehe, wie meine flüchtigen Zeitgenossen mit ihren Handys Fotos vom ewigen Rundgangdes Tigers machen, und weiß, das Geheimnis dieses entnervten geketteten Gangs wird bei ihnen daheim nicht mehr sichtbar sein. Überall auf den Wegen laufen fette Nagetiere herum, deren Namen ich nicht kenne, eine Art riesiger Murmeltiere, die zwischen den Kieselsteinen oder im Gras mit ihren nervösen, vornehmen Gesichtern nach etwas suchen. Weswegen bin ich gekommen? Der Löwe liegt auf seiner Grasfläche und hat die Welt abgeschafft, er schläft in seinem eigenen Wappen. Ein weißer Reiher auf einer Palme, ein Fragment aus einer Geschichte, die ich nie gehört habe. Nachts würde ich hier gern herumgehen, wenn alle schlafen oder nicht schlafen. Was würden sie sehen, der Ameisenbär, das Faultier, der Affe? Einen Menschen, allein, hinter seinen Gittern auf und ab wandernd, die große Umkehrung. Wo der Weg abknickt, ein kleiner Käfig mit einer künstlichen Berglandschaft. Es dauert einen Moment, bevor ich sie entdecke, eine schwarze Katze. Wir blicken uns an. Eine ganz gewöhnliche Katze, sagt ein Vorbeigehender zu seiner Tochter. Auf dem Schild am Gitter steht, daß man bei genauem Hinschauen unter dem Schwarz das Muster ihrer Zeichnung erkennt. Ich erkenne nichts. Bergkatze, gato montés . Sie sieht aus wie alle schwarzen Katzen, die ich bisher gesehen habe, doch wenn ich sie streichelte, würde sie beißen. Der Blick ihrer grünlichen Augen verhakt sich in meinem, sie weiß, daß ich am liebsten einen Stuhl vor ihren Käfig stellen würde, um sie stundenlang anzuschauen. Eine mechanische Stimme treibt über alle Käfige, in einer halben Stunde wird der Garten geschlossen. Man braucht ein Wort nur aufzuspalten, um es zum erstenmal wirklich zu hören: Tier Garten, Garten mit Tieren. Ich gehe dorthin, wo ich den Ausgang vermute, und sehe in der Ferne die hohen Köpfe zweier Giraffen. Nimmt man Menschen als Maß, Wesen mit einem Kopf, einem Mund, mit Beinen,

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