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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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ich, daß er viereinhalb Meter lang werden und zweihundert Kilo wiegen kann. Pirarucú, Arapaima gigas . Wohnort: hier, im Amazonas. Es ist unser Privileg, Welten sehen zu können, die Menschen früher stets verschlossen waren. Das Aquarium von Medellín liegt in der Nähe des Botanischen Gartens, an diesem Tag mitten in der Woche ist es dort ruhig. Auf zweifache Weise herrscht hier Ruhe: durch die Abwesenheit anderer Besucher und die Stille der Fische in ihrer lautlosen Welt. Ob es zwischen Stille und Farbe einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht, jedenfalls steht die Grellheit der Farben in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Stille im durchsichtigen Wasser hinter den Glaswänden. Es ist schwer zu begreifen, daß es Lebewesen sind, die dort so totenstill in ihrem Element hängen, gelb, violett, gestreift, Messerfische, Piranhas, Mörder, meditierende Mönche, tödliche Waffen und Pazifisten, Medusen aus durchsichtigem Gelee, Anemonen, die aussehen wie Eingeweide mit sacht fächelnden Ausstülpungen, gestreckte Finger, künftige Korallen von der Farbe des Blutes, ich gehe an ihrem schweigendenund sich verneigenden Hofstaat vorbei dorthin, wo Pirarucú leben soll. Er hat das größte Haus, teilt es mit einigen anderen trägen Bewohnern, die ihm nicht gleichen, ich sehe einen Baum mit Luftwurzeln, hier sind wir in seiner nachgebildeten Welt, von unten kann ich zur Wasseroberfläche hinaufschauen, ein sich auf rätselhafte Weise bewegender Film, den ich später von oben sehen werde, jetzt aber noch nicht. Was bedeutet es, wenn ein Fisch 23 Millionen Jahre alt ist? Anders gefragt, dieser Fisch hier ist keine 23 Millionen Jahre alt, wie kommt es dann, daß ich das trotzdem denke? Tiere sind eine Wiederholung ihrer selbst, dreitausend oder dreißigtausend Jahre vor Christus sah Pirarucú genauso aus, und warum denke ich, daß dieser Fisch, der da genau vor mir äußerst träge auf und ab schwimmt, das weiß? Er stammt aus einer Zeit vor Cheops, vor Gilgamesch, vor Homer, vor Poseidon, vor allem, was wir Späten als alt bezeichnen. Er stammt aus einer anderen Mythologie. Der Stamm der Uaia kennt seine Geschichte, er war ein Krieger, der von den Göttern bestraft wurde, indem sie ihm einen Blitzstrahl genau in sein Herz stießen. Während er noch lebte, warfen sie ihn in die Tiefe des Flusses, wo er sich in einen Fisch mit großen Schuppen verwandelte. Das brütende Auge blickt mich jedesmal, wenn er vorbeischwimmt, lauernd an, aber sieht er mich auch? Oder hält er mich für keines Blickes würdig, ein Schemen aus einer nicht existierenden Welt? Als ich eine Etage höher gehe, sehe ich das Wasser von oben, darunter seinen sich hin und her bewegenden dunklen Schatten. Der Baum, dessen Wurzeln ich unten betrachtet habe, ragt weit aus dem Wasser heraus, das Grün seiner Blätter bringt mich in meine eigene Welt zurück, die Wasseroberfläche, jene unendlich feine Trennung zwischen Unten und Oben, ist hier von einer anderen Ordnung, schließt das stille Universum nach unten ab, macht das Geheimnisvolle unerreichbar, untersagt mit sachten Bewegungen den Zugang, ich werde ausgesperrt, bin nur ein Mensch, gehöre dort nicht hin. Später, an einem Ort am brasilianischen Amazonas,werde ich ihn essen, und das wird sich wie ein Sakrileg anfühlen. Ihn? Sie? Ich weiß, daß sie die Eier in ein Nest auf dem Grund des großen Flusses legt und sie behütet, bis die Jungen schlüpfen. Sobald sie das getan haben, finden sie Nahrung und Schutz im Maul des Vaters. Warum gleicht auch das einer fremden Religion? Als ich das Aquarium verlasse und in den Botanischen Garten gehe, denke ich mir Fragen für den nächsten Brief an den Meeresgott aus. Ist er auch für Flüsse zuständig? Für Flüsse wie diesen, so groß wie ein Meer? Kennt er die Götter, die Pirarucú gestraft haben? Und die schwierigste Frage: Wie alt ist er eigentlich selbst? Doch ich weiß, ich werde keine Antwort erhalten.

Flamme
    E s ist einer der merkwürdigeren Augenblicke in Dantes Hölle, in der ohnehin alles so grausam und merkwürdig ist. Dante ist nachdenklich. Er fragt sich, ob es zutreffe, daß »man gegen Morgen Wahres träumt«? Die niederländische Übersetzung, die ich neben dem italienischen Original lese, ist eine altmodische, wörtliche Übertragung aus dem Jahr 1940, hier und da krumm und ungeschickt und dadurch auf eigenartige Weise wirkungsvoll, als wäre der Staub von siebzig Jahren, der über den Wörtern und Sätzen liegt, ein Sinnbild für das

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