Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
Vom Netzwerk:
der sonst ihn getötet hätte, aber muß diese Rache denn ewig währen? Weil Homer es zu Papier gebracht hat, darf ich dabeisein, wenn die Götter beisammensitzen und Athene bei Zeus für Odysseus spricht, der in den dunklen Höhlen der Kalypso festgehalten wird und noch immer nicht, wie alle anderen Anführer, nach Hause zurückkehren kann, weil diese Tochter des Atlas ihn betört; ausgerechnet den Mann, der davon träumt, irgend etwas, und sei es nur den Rauch eines Feuers, von Ithaka sehen zu dürfen, versucht sie diese Insel vergessen zu lassen, während er nur noch sterben will, wenn er nicht heimgehen darf. Ich höre die Antwort des Vaters der Athene, daß er den gottgleichen, aber sterblichen Odysseus nicht vergessen hat, daß jedoch du, Poseidon, ihm den Tod nicht gönnst, sondern ihn zwingen willst, immerzu weiterzuziehen, ein ewig Verbannter. Wir wissen, wie es ausgegangen ist, es ist dir nicht gelungen. Doch das Rätsel deiner Wut bleibt und kehrt mit jedem Wintersturm wieder. Bei Kap Artemision hat man eine Statue von dir gefunden, Bronze, anscheinend so groß wie ein Mensch. Dein nackter Körper ist uns voll zugewandt, trotzdem hat man den Eindruck, er steht quer, weil dein Kopf nach links gedreht ist und deine Augen der Richtung des linken Arms folgen, der, gerade ausgestreckt, ebenfalls nach links zeigt, in einer fast beschwörenden Geste, als wolle er die Wut des Meeres besänftigen. Es ist eine Statue von unermeßlicher Kraft, doch die rechte Hand ist nicht gestreckt wie die linke, sondern etwas höher erhoben in die leere Luft, die Finger in einer fast weiblichen, eleganten Haltung. Ist das das Geheimnis?

Kollegen
    E in fötusähnlicher Kuhkopf, weißrosa, ohne Augen, Hörner aus dem gleichen glatten, plastikartigen Material. Wo ein Auge sein müßte, ein dunkler Schatten, darunter, wo man eine Schulter vermuten würde, ein einziges Auge. Ein weit ausladendes Ballkleid, ebenfalls rosa, das luftig über ein paar dicken Strichen hängt, die sich, wenn sie unter dem durchsichtigen Rock hervorkommen, als Tentakel entpuppen. Er tanzt allein, im strengsten aller Ballsäle, die Bewegung verleiht ihm eine unendliche Leichtigkeit und Anmut. Die Wände des Ballsaals sind das Schwarz des tiefsten Ozeans, das Licht, in dem er sich in dieser Finsternis aufhält, muß von der Kamera stammen, die ihn in seiner lichtlosen Welt abgebildet hat, einen Kraken von großer Schönheit. Stauroteuthis syrtensis . Er selbst weiß es nicht, aber so heißt er. Er lebt zweieinhalb Kilometer unter den Wogen, dort, wo kein Licht hindringt. Wenn er irgendwohin will, benutzt er seine Flossen, die Elefantenohren gleichen. Oder er dehnt sich, Wasser durch seinen Mantel pumpend, aus, zieht sich wieder zusammen und bewegt sich so in der alles beherrschenden Stille. Wir ähneln ihm nicht, doch was uns gemein ist, ist die Tatsache, daß wir leben und daß wir essen müssen. Wie er uns beschreiben würde, wissen wir nicht.
    Zwei Gesäßbacken aus prall gespannter Schweinsblase, dazwischen eine elegante Doppelvulva, die keine ist, die Haut bläulich und dahinter der Schatten eines rosafarbenen Embryos, der ebenfalls keiner ist. Vollendete Rundungen, ansonsten kein weiterer Anknüpfungspunkt. Chaetopterus sp. nov , der Schweinegesäßwurm. Auch er bewegt sich durch das lautlose nachtschwarze Nichts. Er ernährt sich durch Aufblasen eines Schleimballons, der organische Teilchen auf seiner Oberfläche sammelt. Ich betrachte noch einmal das bläuliche Rund dieser beiden Ballons, das weiße Gespinst aus flüchtigen Punkten, die wundersamen symmetrischen Falten einer Frau ohne Frau dazwischen. Hier ist nichts, was es scheint, aber auch er frißt, um zu leben.
    So viel unvorstellbare Freßsucht in zwanzig Zentimetern Fisch, der fast nur aus einem Kopf besteht. Ein zerknautschter, schlecht zusammengelegter blauer Sack aus schlecht genähtem Stoff, auf dem dieser Kopf sitzt, ein böser Fortsatz an der Unterseite, das Maul zum lichtlosen, nuancenlosen Schwarz geöffnet, die Zähne weiß und geschliffen wie nach innen gerichtete Dolche, ein weiterer Dolch mit leuchtender Spitze zwischen den leuchtenden blauen Augen. Auch dies ist eine Frau. Melanocetus Johnsonii . Sie bewegt sich nicht gern, und so kann kein Feind sie finden. Ihre gespenstisch kleinen Männer bleiben ein Leben lang bei ihr und lösen sich dann allmählich im Gewebe ihres weiblichen Körpers auf, bis nichts mehr von ihnen übrig ist, eine Moralität. Der Bucklige Anglerfisch hält

Weitere Kostenlose Bücher