Nooteboom, Cees
Wasser der materielle Ursprung jeglichen Seins ist. Danach läßt der Autor einen nach dem anderen zu Wort kommen, all diese erstaunlichen frühen Denker, die nach der Substanz suchten, deren vergängliche Form alle anderen Dinge angeblich sind. Der Schüler von Thales, Anaximander, dachte im Gegensatz zu seinem Meister, das könne nicht das Wasser sein und auch nichts anderes, es müsse vielmehr etwas Altersloses sein, unendlich und ewig, etwas, das die gesamte bekannte Welt in sich berge, eine lange Kette von Sein und Werden, ein fortwährender Kampf mit Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage, ein stets von neuem erklärter Krieg von Heiß gegen Kalt, Trocken gegen Naß, Feuer gegen Wasser und mit einem, und auch das stets von neuem, abschließenden Ausgleich in der Zeit, Welten, die in endlosen Serien kommen und wieder verschwinden. Habt ihr etwas darüber gelesen? Haben diese Dinge auch euch beschäftigt? Oder wart ihr aufs Schönste eingesponnen in eure eigenen Mythen, der Anbetung und Opfer gewiß, eurer Sache gewiß? Diese Männer lebten in Milet oder Sizilien und wollten wissen, Empedokles mit seinen vier Elementen, Heraklit mit der Veränderung als unvergänglichem Prinzip, was sie dachten und behaupteten, konnten sie nichtbeweisen, sie lebten von Vermutungen und Intuition, das Nichts, das Feuer, der so wohlgeordnete Kosmos, die ewigen und unzerstörbaren Atome des Demokrit und Leukipp, das alles hätte euch doch interessieren müssen? Oder empfandet ihr bereits damals Feindschaft gegenüber dem Zweifel, dem ständigen Fragen der sterblichen Menschen, die irgendwann einmal auf einen Gedanken würden kommen können, der euer Ende bedeuten würde?
Und das zweite Mal? Das ist von einer völlig anderen Größenordnung. Ganz hinten in meinem Hesiod stehen Testimonia , Zeugnisse, Berichte von Zeitgenossen und Späteren über ihn. Doch bevor ich dazu komme – was hieltest du von Hesiod selbst? Lasest du ihn? Und Homer? Die meisten Menschen möchten gern lesen, was über sie geschrieben wurde. Gilt das auch für Götter? Quintilian ist in seinem Urteil zurückhaltend. Er ist der Ansicht, mein geliebter Hesiod setze nur selten zu Höhenflügen an, nenne zu viele Namen, spricht ihm aber immerhin den Lorbeerkranz in der Mittelklasse zu. Sparsam mit Lob, ein echter Kritiker. Aristoteles lasest du vielleicht auch nicht, nicht einmal die Stellen über Nektar und Ambrosia, also Götterspeise, euer täglich Brot. Was hättest du geantwortet, wenn du es gelesen hättest? »Denn wenn sie [die Götter] um der Lust willen Nektar und Ambrosia berühren, so sind dieselben für sich nicht Ursachen des Seins; berühren sie aber dieselben um des Seins willen, wie können sie dann ewig sein, da sie doch der Speise bedürfen? Doch es gehört sich wohl nicht, mythische Weisheit in ernstliche Betrachtung zu ziehen.« Ein strenger Meister.
Nein, das Schreckensbild, das die Frage zu eurem Lesen bei mir auslöste, ist ein anderes. Es stammt aus einem Buch von Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen . Darin erzählt Hieronymus von Rhodos, daß Pythagoras bei seinem Abstieg in die Unterwelt die Seele Hesiods sah, die an eine bronzene Säule gebunden war und schrie, und daß die Seele Homers an einem Baum hing undumringt war von Schlangen, als Strafe für ihre Äußerungen über die Götter. Das wäre dann der Beweis, daß ihr sowohl Hesiod als auch Homer gelesen und euren Bruder Hades für diese grauenvolle Bestrafung eingeschaltet habt. Weiter kann Zensur nicht gehen. Und das, obwohl wir wissen, daß alles, was über euer schändliches Treiben erzählt wird, wahr ist. Euer Leben ist nicht das von Heiligen. Ehebruch, Rachsucht, Lust, Lug und Trug auf dem Schlachtfeld, halbe Vergewaltigung, Vatermord, vielleicht bist du deswegen unsterblich, wegen der genialen Schriften der Dichter, dank deren wir auch heute noch von dir wissen.
Alt
K ennst du dieses lebende Fossil? Ich bin aus der U-Bahn-Station Botanischer Garten gekommen und habe den großen Fisch gesehen, die Frage auf dem Schild gelesen. Nein, ich kenne diesen Fisch nicht. Das Schild ist groß, der Fisch ebenfalls. Das Maul wirkt leicht nach oben gebogen, das linke Auge glänzt schwarz, es lauert, würde dieser Fisch etwas sagen, so wäre es eine Drohung. Er lebt bereits seit 23 Millionen Jahren in den Gewässern dieses Planeten, steht dabei, und auch das klingt wie eine Drohung. Ich betrachte das Foto. Nach dem lauernden Kopf kommt der gewaltige Leib, später erfahre
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