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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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selbst;
    beim vierten Mal riß er das Heck in die Höhe
    und ließ den Bug versinken – so gefiel es Ihm –
    und dann schlug über uns das Meer zusammen.«
    Der Er hat in Dantes Italienisch keinen großen Anfangsbuchstaben. Diesmal jedoch war es nicht Poseidon, der aus Rache wollte, daß Odysseus = Ulisse nie wieder zu Penelope heimkehrte, sondern der rächende Gott von davor und danach, der Dante zufolge auseigenem Antrieb Odysseus in Poseidons Meer ertrinken ließ und so in einem Aufwasch auch noch Homers Meisterwerk zerstörte, indem er das Ende barbarisch abwandelte.

Poseidon XXII
    D as Rätselspiel nimmt kein Ende. Ich habe eine Anomalie, die ich Gedankenpurzeln nenne, ein Zustand der Verwirrung, der mich von einem Gedanken in den nächsten purzeln läßt. Es ist Herbst, der Feigenbaum vor meinem Studio ist kahl, nur am Fuß hängen noch ein paar große Blätter. Ein windstiller Tag, das heißt, wenn ich sie in Bewegung sehe, weiß ich, daß die Schildkröte da ist, nicht die große, sondern die kleine, die ich an ihrer Zeichnung erkenne. Sie ist adlig, sie trägt ein Wappen. Sie kennt mich ebenfalls und hat beschlossen, daß ich ungefährlich bin, obgleich ich mich widerrechtlich auf ihrem Terrain befinde. Sobald ich sie sehe, beginnt das Purzeln, ich gehe zu ihr hin, sie hebt mir ihr altes Philosophenhaupt kurz entgegen und versucht, gegen die Sonne meine Größe zu schätzen. Sie scheint nicht enttäuscht, ich kenne diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht, eine Art Zufriedenheit, die damit zusammenhängen muß, daß Achill sie abermals nicht hat einholen können. Und dann bin ich mit einem Purzelbaum bei Achill und damit natürlich wieder bei dir, bei der üblen Art und Weise, wie du dich auf dem Schlachtfeld vor Troja benommen hast. Aber ich bleibe bei Achill und komme so zum König von Spanien, der an der Achillessehne operiert worden ist. Immer wieder sehe ich den alten Bourbonen umherhumpeln, und das Mitleid, das ich dann empfinde, ist wörtlich zu verstehen, denn auch ich leide an der Achillessehne. Dort, wo die unsterbliche Thetis ihren sterblichen Sohn festhielt, als sie ihn ins Wasser tauchte, um ihn unverwundbar zu machen, spüre ich regelmäßig einen brennenden Schmerz, irgendwie bleibt ihr unser ewiger Bezugspunkt. Doch jetzt hat das Gepurzel erst richtigeingesetzt, denn wenn ihr eine Kirche wärt, gehörte Achill zu meinen Heiligen, er und Odysseus und Athene und Aphrodite und Orion und Prometheus. Vielleicht wundert es dich, daß ich dich nicht nenne und trotzdem an dich schreibe und nicht an die anderen. Mich wundert das auch, das meine ich mit Rätselspiel. Die einzige Antwort, die mir darauf einfällt, lautet, daß es mit dem Meer zu tun haben muß, mit der unvorstellbaren Anziehungskraft, vermischt mit Angst, die Ozeane seit jenem ersten Mal auf mich ausüben, als ich in jungen Jahren auf einem kleinen Frachter nach Südamerika fuhr. Wir waren zu vierzehnt, und auf einem kleinen Schiff erkennt man die Unendlichkeit des Meeres besser, man spürt, wie an dem Fahrzeug gezerrt wird, wenn man nachts allein an Deck steht und in der Finsternis auf das wogende, ständig in Bewegung befindliche Wasser starrt, verwandelt sich das eigene Dasein in eine endlose Frage ohne Antwort, irgend so etwas muß es sein. Später suchte ich deine leeren Tempel auf Kap Sounion und bei Segesta auf Sizilien auf, klassische Fassaden von großer Schönheit, mächtige dorische Säulen mit dem Himmel als Dach, wo die Phantasie das Rauschen der Bäume in menschliche Stimmen verwandelt, die vielleicht noch von dir sprechen, vielleicht aber auch nicht. Und hier, wo ich jetzt bin, habe ich das Meer, und damit dich, immer um mich. Bin ich dir dadurch nähergekommen? Ich glaube, nicht, aber ich suche dich trotzdem. Je mehr ich lese, um so mehr Erscheinungsformen nimmst du an, meist keine angenehmen. Streit mit Athene und Hera, stets einen Tsunami bei der Hand, wenn dir etwas nicht paßte, Experte im Zerstören. Ist das also die Anziehungskraft? Das gleiche, mir bekannte Gefühl, wenn das Meer hier tobt und meterhohe Wellen wütenden Schaums an die Felsen schlägt. Wenn dann in der Ferne ein Segelboot vorbeizieht, das größte Mühe hat, einen Hafen zu erreichen, dann denke ich an Odysseus, den Listigen und Sterblichen, der dir trotz all deiner göttlichen Macht stets ein Schnippchen schlug. Allein schon deswegen ist er einer meiner Heiligen. Weckt das deine Eifersucht? Ich weiß, er hatte einen deiner zahllosen Söhne umgebracht,

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