Nooteboom, Cees
bergan klettert, sieht man links und rechts die typisch mediterrane Vegetation, wilden Rosmarin, Erika, Socarrell, Bruc, Strandhafer und meine Lieblingspflanze, die Euphorbie, die jetzt, im September, an den Enden der nach oben gerichteten braunen Zweige die ersten grünen Blättchen bekommt. Wenn man oben angelangt ist, verändert sich das Bild dramatisch. Man sieht den Weg nicht mehr, den man zurückgelegt hat, den Pfad über die Felsen, den Fischerort selbst und die Bucht mit all den dort ankernden kleinen und größeren Schiffen hat man weit unter sich gelassen, in der Ferne erspäht man den verfallenen Wachturm auf einem hohen, steinigen Hügel. Diese Türme bilden einen Ring um die ganze Insel, einst waren sie bemannt.
Phönizier haben hier gelebt, Araber, Engländer und Franzosen haben die Insel besetzt, stets lauerte Gefahr. Ich liebe diesen Turm, er ist beschädigt, große Steinquader sind aus den Mauern herausgefallen, er ist der einzige, der nicht restauriert wurde, der Nordwind frißt an den Steinen, die dieselbe Farbe haben wie der Hügel,man brauchte sie nicht von weither zu holen, um an diesem entlegenen Ort einen Turm zu bauen, und jetzt ist seine Abgeschiedenheit wahrscheinlich auch sein Schicksal, es ist zu weit, um Arbeiter, Material und Maschinen dorthin zu befördern. Ein paar Turmfalken nisten in seinen hohlen Zähnen, manchmal, wenn ich dort bin, höre ich sie schreien, hoch und schrill. Am Fuß des Hügels liegt ein kleiner Strand, er wird nicht gesäubert, weshalb er mit Tang übersät ist, der angespült wird und sich hier türmt, gewaltige Kissen und Matratzen aus toten Pflanzen, ein Liebeslager für Riesen. Möwen, Falken, Tang, dann und wann ein Fischerboot, das der Küste nicht zu nahe kommt und wieder abdreht, weiter draußen eine kleine unbewohnte Insel. Wenn wildes Wetter herrscht, und das kommt nicht selten vor, peitscht das Meer Wände aus Schaum hoch an die Felsen. Das sind die Augenblicke, in denen ich gern unter Wasser wäre, um die Posidonia zu sehen, die Wiesen mit hohem, biegsamem Tang, durch den ich an ruhigeren Tagen schwimme. Das passende Wort dafür ist »opulent«, die langen schmalen Blätter sind von einem leuchtenden Grün, sie tanzen sanft zur Bewegung des Wassers, es sind im buchstäblichen Sinne des Wortes Wasserpflanzen, das Gras des Poseidon, Posidonia oceanica . Man nennt es Tang, doch im Grunde ist es ganz einfach eine Pflanze mit Wurzeln, Blättern und einem Stengel, die Fischen und kleinen Schalentieren Nahrung und Schutz bietet und, wenn die Winterstürme kommen, ihre Blätter verliert, welche durch Ebbe und Flut auf den Strand gespült werden, wo sie sich Schicht um Schicht auftürmen. Braun werden sie dann, die langen Blätter, sie bekommen unter der feuchten Holzfarbe einen silbernen Schimmer, eine Schicht langsamer Vergänglichkeit, die die Küste schützt, ein großes Bett aus Millionen Blättern. Wenn man darübergeht, federt es sanft. Das wedelnde Grün von unten hat seinen Glanz verloren, es erzählt etwas von Vergehen und Sterben, doch wenn der Wind es hochhebt und an den sandigen Hang hinter dem Strandjagt, weht organisches Material mit, von dem die Pflanzen an Land und am Hügelhang profitieren. Und unter Wasser geht die Verwesung auf frivolere Weise weiter, denn die Blattrhizome der Posidonia sind voll von Gewebe, das von abgestorbenen, verrotteten Blättern stammt, Gewebe, das losgerissen und an der Küste angeschwemmt wird, wo es von den Wellen, die über den Strand brechen, zu kleinen, braunen ovalen oder runden Bällen geformt wird, die die Menschen von der Insel Nonnenfürze nennen, pets de monja .
In diesem Brief steht nichts, was der Gott nicht wüßte, aber vielleicht kann er über die Nonnenfürze lachen, denn auch ein Gott hat noch nie einen Furz in der Hand gehalten. Haarig fühlen sie sich an, sein Meer ist ein Künstler, der aus abgestorbenem Gewebe ein neues macht, kamelfarben, voll vom kleinsten Schimmern von Fasern, die je in seinen Gärten zum Rhythmus seiner ewigen Musik getanzt haben.
Poseidon XXI
L esen Götter? Die Frage ist nicht respektlos gemeint, doch mir ging plötzlich auf, daß ich mich an kein einziges Bild eines lesenden Gottes erinnern kann. Nun sagt das an sich nicht so viel, denn mein Gedächtnis läßt nach, aber die Frage drängte sich mir auf zweierlei völlig unterschiedliche Weise auf. Das erste Mal, als ich die Ausführungen eines modernen Physikers über den Gedanken von Thales von Milet las, wonach
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