Nora Morgenroth: Der Hüter
uns. Das Grauen hatte es geschafft, sich aus meinen Träumen heraus zwischen Oliver und mich zu drängen.
Wie konnte es sein, dass ich innerhalb weniger Tage derartig aus dem Gleichgewicht geraten war?
Meine Finger fuhren über die hölzernen Verzierungen. Ich kannte jede Vertiefung auswendig, ich hätte sie blind ertasten und der genauen Stelle auf dem Bettrahmen zuordnen können. Das hier war besonders schwierig gewesen, die Darstellung eines tanzenden Kindes, das sich über eine reiche Ernte freut. Oberhalb der Figur erkennt man Heugarben, Trauben und Äpfel.
Es war mühsam gewesen, auch in die feinsten Vertiefungen zu gelangen. Ich konnte nicht begreifen, wie jemand so barbarisch gewesen sein konnte, ein derartig kunstvoll geschnitztes Möbel mit Lackfarbe zu verunstalten. Als die Farbe entfernt war, trat das ursprüngliche Eichenholz mit einer wunderbaren Maserung zutage. Ich freute mich jeden Tag an dem Anblick in unserem Schlafzimmer. Es war zu schön, um sich darin nicht zu lieben. Es war unser Liebesbett, Olivers und meines.
Und jetzt würde ich hinuntergehen und sehen, ob er in der Küche saß oder auf dem Sofa eingeschlafen war, das bisher weitgehend ungenutzt im halbfertigen Wohnzimmer gestanden hatte. Wir hatten uns immer noch nicht geeinigt, ob wir die Wände dort tapezieren, streichen oder einfach nur verputzen sollten. Ich nahm mir vor, diese Frage am nächsten Tag endlich mit Oliver zu klären und mich dann an die Arbeit zu machen. Aber erst einmal sollte er zu mir ins Bett kommen. Ich wollte an seiner Seite wieder einschlafen.
Doch ich erhob mich nicht. Die Gewissheit hing an mir wie ein tonnenschweres Gewicht. Das Bett. Plötzlich wusste ich es. Es lag nicht an unserem Haus. Die Alpträume hatten in der Nacht begonnen, als wir zum ersten Mal in dem Bett geschlafen hatten. Mein Mund wurde trocken und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich wollte aufstehen, doch ich konnte nicht. Es drückte, es zog, es hielt mich unten.
« Oliver!», krächzte ich, doch ich hörte mich selbst kaum mehr, da das Rauschen schon herannahte und mich wieder umhüllte.
Papa!
Lass es nicht zu …
Ich kann nicht.
Du kannst ihm nicht helfen.
Wer ist es, Papa?
… kann nicht helfen … armes Kind.
Papa, so hilf mir doch!
… hab keine Angst, ich bin immer da.
Ich will das nicht, Papa.
Sei stark.
Töte es.
Nein, Papa, nein.
Hol den Stock.
Papa, wir müssen ihm helfen.
Du kannst nicht helfen.
Es ist ein Kind.
Nimm das Messer.
Nein, tu es nicht …
Papa … lass mich nicht allein.
Als ich wieder zu mir kam, war es hell. Ich lag zusammengerollt auf dem Bett. Quer, am Fußende.
Die Erinnerung an den verunglückten gestrigen Abend kehrte zurück, als ich mich aufsetzte und überlegte, wo Oliver war.
Ich rutschte an die Bettkante und setzte die Füße auf den Boden. Dieses verdammte Bett, konnte es wirklich daran liegen? Was es auch war, ich musste es herausfinden. Ich stand auf und lief die Treppe hinunter.
Oliver hatte tatsächlich auf dem Sofa geschlafen. Die karierte Wolldecke lag ordentlich zusammengefaltet über der Rückenlehne, aber ich erkannte den Abdruck seines Körpers noch auf den Polstern. Wie bei einem richtigen Ehestreit, dachte ich, dabei sind wir noch nicht einmal verheiratet. Wenn ich so weiter mache, dann wird das auch nichts mehr. Oh Gott, ich werde ihn verlieren.
In der Küche fand ich eine Nachricht von Oliver. Er hatte meine Teekanne vorbereitet, der Zettel steckte zwischen Kanne und Lieblingstasse : Ich musste früh zum Dienst, das Team aus Berlin ist heute den letzten Tag da. Versuche, heute nicht so spät zu kommen. Lass uns dann reden, ja? Ich liebe dich, Oliver .
Vor Erleichterung traten mir die Tränen in die Augen. Ich war so unendlich glücklich über diese versöhnliche Geste und fühlte mich sogleich besser. Mein Tatendrang erwachte und ich wusste sofort, was ich als Erstes tun würde, also, nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte natürlich. Ich sah auf die Uhr. Es war erst kurz nach acht, also hatte ich vermutlich mehr als genug Zeit, um mir einen Tee aufzusetzen. Heute würde ich der Herkunft des Bettes auf die Spur kommen. An mir ist eine richtige Detektivin verloren gegangen, dachte ich und setzte mich an den Tisch, während das Wasser im Kessel zu sieden begann.
Der Antik- und Trödelmarkt, in dem ich das Monstrum erstanden hatte, gehörte zu den Läden in der Erzfelder Altstadt, die in der Regel nicht vor zehn Uhr öffneten. Wenn sie überhaupt jeden
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