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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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obwohl wir uns nicht einmal gestritten hatten. Oliver nahm mein abweisendes Verhalten mit offensichtlicher Verletztheit zur Kenntnis. Nun zog er sich seinerseits zurück.
    Ich gab vor, an meinem Roman zu arbeiten . Zwar saß ich am Schreibtisch, doch die meiste Zeit starrte ich nur blicklos vor mich hin.
    Eine Weile surfte ich ohne ein bestimmtes Ziel im Internet. Schließlich war ich müde und legte mich ins Bett. Ich hörte Oliver unten im Haus hin und hergehen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und rollte mich auf die Seite. Als ich die Augen schloss, begann es in meinen Ohren zu knistern, erst nur ganz leicht, dann lauter. Das Rauschen kam näher und schwoll an. Es hörte sich an, als ginge ein Windstoß durch das dichte Laub eines Baumes, einer Buche vielleicht, und ich stand direkt darunter. Nur war es jetzt so, dass das Rauschen durch mich hindurch fuhr. Ich wollte die Augen wieder aufreißen, doch es war zu spät. Wie man sich nicht der Wirkung einer Narkose widersetzen kann, gab es jetzt für mich kein Zurück mehr. Ich wollte rufen, dass jemand mich festhalten sollte, aber da wurde ich schon davon getragen.
    Schwarz. Alles ist dunkel. Ich sehe Bäume und das Dach eines Hauses. Ich fliege. Hoch, so hoch. Oh Gott, nein, ich stürze ab. Nein, ich stehe vor einer Wand. Da ist eine Tür. Dahinter Weinen. Schreie. Ich gehe durch die Tür. Muss sie nicht einmal öffnen. Ich bin wie Luft oder die Tür ist es. Ich bin die Tür und der Mann und das Kind. Ich sehe und bin. Da ist der Mann. Er hat einen Stock. Er tut dem Kind weh. Aua. Aufhören, sofort aufhören! Sie hören mich nicht. Das Kind weint. Oh Gott. Es ist jetzt nicht mehr so klein. Ist es dasselbe Kind? Da liegt ein Hund. Er ist alt und sieht sehr lieb aus. Auf dem Tisch liegen verschiedene Messer, lang und spitz oder gebogen, das eine hat Zähne wie eine Säge. Solche Geräte habe ich noch nie gesehen. Das Gesicht des Kindes ist tränenüberströmt. Es geht gebückt zum Tisch und nimmt das Messer, auf das der Mann deutet. Dann geht es auf den Hund zu. Es kniet neben dem Hund nieder und schaut noch einmal zu dem Mann auf. Papa. Papa. Wer nicht hören will, kommt ins Loch. Ja, Papa. Das Kind wendet sich dem Hund zu. Nein, tu das nicht, rufe ich, du musst das nicht tun.
     
    Als ich erwachte, war ich schweißgebadet und richtete mich würgend auf. Ich schwang meine Beine über die Bettkante. Es fühlte sich an, als hätte ich die Grippe. Mein Körper war schwer und wie zerschlagen.
    Irgendwie schaffte ich es hinüber ins Badezimmer, ließ mich vor der Toilette auf die Knie fallen und klappte den Deckel hoch. Ich konnte nicht viel von mir geben, da ich am Vorabend nichts mehr gegessen hatte.
    Dann erhob ich mich. Die Übelkeit hatte etwas abgenommen. Ich putzte mir die Zähne und ging leise zurück ins Schlafzimmer. Durch das Licht, das aus dem Flur ins Schlafzimmer fiel, erkannte ich, dass das Bett leer war. Olivers Seite sah unberührt aus. Ich setzte mich an das Fußende. Meine Beine fühlten sich immer noch wackelig an, aber ich konnte mich nicht überwinden, mich wieder hinzulegen. Ich hatte einen Arm auf das Holz des Bettrahmens gelegt und fuhr mit den Fingern die geschnitzten Verzierungen nach.
    Dieses Bett war bisher das Beste, was mir handwerklich gelungen war. Ich hatte die kackbraune Farbe, mit der die Vorbesitzer es verschandelt hatten, in tagelanger und mühevoller Arbeit abgebeizt und abgeschmirgelt – das Meiste von Hand, um die Schnitzereien nicht zu beschädigen. Es war wirklich eine anstrengende Arbeit gewesen, aber es hatte sich gelohnt.
    Für mich war es sozusagen Liebe auf den ersten Blick gewesen, als ich das ungewöhnliche Stück bei einem Streifzug durch das Lager eines Händlers für Trödel und Antiquitäten entdeckt hatte. Die Oberfläche des Holzes war in keinem sehr guten Zustand gewesen, darum machte mir der Händler einen guten Preis. Ich hatte den Eindruck gehabt, dass er froh gewesen war, das sperrige Möbel los zu sein.
    Es war ein sehr spezielles Stück, das musste ich zugeben. Als es geliefert wurde, war ich selbst von den Ausmaßen etwas überrascht. Das Bett nahm einen großen Teil unseres geräumigen Schlafzimmers ein. Das Monstrum, so nannte es Oliver, aber ich glaubte, dass er es dennoch mochte.
    Ich dachte daran, dass es erst eine gute Woche her war, dass wir es gemeinsam aufgebaut hatten und ich erinnerte mich, wie zärtlich wir uns darin zum ersten Mal geliebt hatten.
    Und nun stand da etwas Schwarzes zwischen

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