Nora Morgenroth: Der Hüter
Tag aufmachten. Es war mir schon mehr als einmal passiert, dass ich etwas Bestimmtes in einem der kleinen Geschäfte kaufen wollte und dann vor verschlossener Tür gestanden hatte. Reguläre Öffnungszeiten wurden in diesem Viertel nicht immer zuverlässig eingehalten, dafür gab es individuelle bis bizarre Kleidung, Schmuck und Möbel zu kaufen, die man in den auf Konsum gebügelten Ladenketten der Innenstadt vergeblich suchte. Meistens kaufte ich gar nichts oder nur eine Kleinigkeit, aber ich stöberte für mein Leben gern dort herum. Am liebsten mit Bille. Die ging in jeden Laden und probierte ulkige Mäntel oder Hüte an, meistens Eigenkreationen der Ladeninhaberinnen. Ich war da zurückhaltender, denn am Ende blieb ich doch meistens bei meinen Jeans und T-Shirts. Ich war eben mehr der sportliche Typ, ohne allerdings besonders sportlich zu sein. Vielleicht war das auch nur meine bequeme Ausrede für die Faulheit, mit der ich mich vor einem mutigeren Outfit drückte. Sybille war da viel experimentierfreudiger als ich, wofür ich sie schon immer bewundert hatte.
Wie auch immer, ich mochte die Altstadt und das Bett war ein richtiges Schnäppchen gewesen.
Als der Tee fertig gezogen hatte, ging ich schnell unter die Dusche und setzte mich dann mit meiner Tasse an den Küchentisch.
Wohlig seufzend nahm ich mir die Tageszeitung vor, die ich inzwischen aus dem Briefkasten neben der Haustür geklaubt hatte. Ich blätterte in Ruhe alles durch und trank meinen Tee. Auf der vorletzten Seite fiel mein Blick unter der Rubrik Lokales auf einen kurzen Artikel, der auf das hindeutete, woran Oliver und seine Kollegen gerade arbeiteten. Das interessierte mich natürlich und ich las aufmerksam.
Dreifache Mutter bleibt verschwunden
( ak) Das Verschwinden einer dreifachen Mutter, 43, aus Bruch bei Vallau bleibt rätselhaft. Wie ein Polizeisprecher bestätigte, gibt es nach wie vor kein Lebenszeichen von der Frau. Das Fahrrad war am 29. April (wir berichteten) unbeschädigt in einem Straßengraben an der B75 zwischen Vallau und Erzfeld aufgefunden worden. Seit dem Morgen desselben Tages fehlt von Frau S. jede Spur. Die vermisste Frau war zuletzt bekleidet mit einem weißen T-Shirt, einer hellblauen Jeanshose und einer orangefarbenen Strickjacke. Außerdem trug die Vermisste eine beige Umhängetasche bei sich. Es ist nicht bekannt, wohin Frau S. unterwegs gewesen ist und ob sie ihr Fahrrad freiwillig zurückgelassen hat oder ob sie womöglich einem Verbrechen zum Opfer fiel. Nach Angaben der Polizei werden derzeit mehrere Spuren verfolgt. Angaben zum Verbleib von Frau S. nimmt jede Polizeidienstelle entgegen.
Es war eine Meldung wie viele, die man jeden Tag in der Zeitung las. Tragisch, irgendwie, doch letztlich betraf es einen nicht wirklich. Seit Yasmines Fall, und seitdem ich Oliver kannte, nahm ich diese Art von Nachrichten persönlicher, insbesondere dann, wenn es sich um rätselhafte, ungelöste Fälle handelte. Wie damals.
Hier war allerdings nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelte. Das hatte Oliver bestätigt. Andererseits, welche Mutter ließ freiwillig ihre drei Kinder zurück? Dazu das im Straßengraben aufgefundene Fahrrad – es wirkte doch höchst unwahrscheinlich, dass die Frau sich einfach davon gemacht hatte. Irgendetwas musste passiert sein.
Gerade als ich bemerkte, dass ich gar nicht mehr auf die Zeitung blickte, sondern irgendwie vor mich hinstarrte, kam das Rauschen.
«Nein!», rief ich entschlossen aus und sprang auf.
Ich verließ die Küche im Laufschritt, lief laut singend durch das Haus, wobei ich mich auf dem Weg nach oben schon meiner Kleidung entledigte. Unter der Dusche schaffte ich einen neuen Schnelligkeitsrekord, verzichtete auf das Föhnen und hatte fünf Minuten später schon das Haus verlassen, Es hatte geklappt, ich war den Stimmen entkommen. Fürs Erste jedenfalls.
FÜNF
« Watt woll’n se?»
« Ich möchte gern wissen, woher das Bett kommt, das ich bei Ihnen gekauft habe?», schrie ich.
« Watt für‘n Brett?»
Ich seufzte. Fast zwei Stunden lang hatte ich, da ich so überstürzt von zuhause aufgebrochen war, gewartet, ehe der Laden endlich geöffnet worden war.
Anstelle der patenten jungen Frau mit den lila gefärbten Haaren, die mir das Bett verkauft hatte, stand heute ein Mann in dem Laden, der aussah, als wäre er älter als alle Möbelstücke zusammen. Sein Gesicht war von so tiefen Runzeln durchzogen, dass ich unwillkürlich
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