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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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bestrafen. Der Junge hält ein Messer in den Händen. Plötzlich ist er kein Knabe mehr. Ich sehe seinen breiten Rücken. Der alte Hund ist fort. Es ist eine Frau. Sie liegt ausgebreitet auf einem breiten Tisch oder Klotz. Ich spüre die Todesangst der Frau. Als ich den Stock heben und auf den Mann niedersausen lassen will, bemerke ich, dass meine Hände leer sind. Will ich der Frau überhaupt helfen oder will ich sie erschlagen, damit das Gewimmer endlich aufhört. Es ist kaum zu ertragen. Ich trete einen Schritt vor und keuche. Ich bekomme keine Luft mehr. Um meinen Hals schließt sich ein lederner Reif. Er sitzt so stramm, dass ich mich kaum bewegen kann. Ich bin gefangen wie sie. Wenn ich auch nur einen Schritt vortrete, wird die Luft zum Atmen abgeschnürt. Ist das ein Kinderlachen? Unmöglich. Hört auf, lauft, so schnell ihr könnt. Ich will schreien, doch zu meinem Entsetzen erkenne ich, dass mein Mund von einer Art Maulkorb verschlossen ist. Mehr als ein verzweifeltes Keuchen kann ich nicht von mir geben. Ich lasse mich zu Boden sinken und schließe die Augen. Die Schreie der Frau sind ohrenbetäubend. Grell. Ich will mir die Ohren zuhalten, da erkenne ich, dass ich wie sie auf einen Tisch geschnallt bin. Da ruft eine Stimme: Wer nicht hören will, kommt ins Loch. Die Frau schreit immer noch. Oder bin ich es?
     
    Als ich die Augen öffnete, war es unverändert dunkel. Zuerst fand ich mich nicht zurecht. Der Alptraum wollte mich nicht loslassen.
    D urch die Ritzen in der Klappe über mir drang ein schwacher Lichtschein. Offenbar klemmte etwas in dem Schlitz, so dass sie weniger fest verschlossen war als zuvor. Vielleicht könnte man sie sogar öffnen. Das nützte mir wenig, denn ich konnte mich kaum von der Stelle bewegen. Doch nicht nur Licht drang zu mir hinein, sondern auch Schreie. Der Schrei einer Frau.
    Eine Frau war auf dem Hof. Jedenfalls ganz in der Nähe. War Thönges also doch verheiratet? Ich dachte an die bunte Jacke im Kaninchenstall. Vielleicht war das meine Rettung?
    Ich richtete mich auf und lauschte. Das Geschrei war in lautes Weinen übergegangen. Ich versuchte zu schätzen, wie weit sie wohl von mir entfernt war. Diese Frau, die da weinte. Sicher außerhalb der Scheune, schätzte ich, aber es war wirklich schwer zu sagen. Was mochte dort oben vor sich gehen?
    In meiner Phantasie nahm Frau Thönges bereits Gestalt an, dazu der Knabe aus meinen Träumen. Würde sie einschreiten, wenn sie bemerkte, dass ihr Mann eine Fremde hier gefangen hielt? Oder steckten sie möglicherweise unter einer Decke? Hatten sie irgendwelche perversen Spiele mit mir vor? Hatte er mich deshalb entführt? Das gab es doch, dass die Frauen aus Angst, verlassen zu werden, bei allem Möglichen mitmachten. Vielleicht hatte sie solche Angst vor Thönges, dass sie nicht gegen ihn aufbegehrte? Trotzdem – ein anderer Mensch, ich wäre nicht mehr ganz allein mit ihm.
    Atemlos lauschte ich. Das Weinen wurde leiser, doch ich konnte nicht feststellen, ob es nun abnahm oder ob die weinende Frau sich entfernte. Jetzt oder nie, dachte ich und rief: «Hallo? Hören Sie mich? Ich bin in der Scheune, in dem Loch! Hallo, helfen Sie mir doch!»
    Im nächsten Moment schlug ich mir die Hand vor den Mund.
    Was, wenn Thönges nun wütend wurde, weil ich die Frau auf mich aufmerksam gemacht hatte? Vielleicht würden wir alle meine Dummheit nun ausbaden müssen, die Frau und das Kind und …
    Weiter kam ich nicht. Plötzlich hatte ich es ganz klar vor Augen. Das Kind musste tot sein. Warum hätte ich sonst die Visionen empfangen sollen? Ich war so unglaublich dumm gewesen. Das Bett. Jemand, der darin gelegen hatte, war tot. Musste tot sein. Sonst hätte ich doch die Visionen nicht gehabt. Ich hörte die Stimmen der Verstorbenen. Nein, nicht nur. Manchmal waren da auch andere Bilder. Dank meiner Gabe sah ich - Dinge. Aber wie sollte ich wissen, was real war und was Traum, so, wie eben alle Menschen träumten und was Vision? Jetzt spürte ich eine lastende Anwesenheit, die noch schwärzer war als die Dunkelheit meines Verlieses. Der Tod. Er war hier. Was sollte es sein, wenn nicht der Tod des Kindes?
    Vielleicht war es auch nur meine Angst. Ich konnte doch nicht mehr klar denken.
    Mein Inneres krampfte sich zusammen und ich konnte nichts dagegen tun. So demütigend das auch war, ich musste mich erleichtern, wenn ich meine Kleidung nicht noch mehr beschmutzen wollte. Ich zerrte an der Leine und entfernte mich von der Wand, so weit ich konnte.

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