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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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nieselte noch. Wir waren alle drei durchnässt. Thönges ebenso wie wir, doch ihn schienen Nässe und Kälte nicht zu stören. Der konnte sich ja auch gleich wieder etwas Trockenes anziehen. Jetzt wurde Marita eingeseift. Ich sah, wie sie zitterte.
    Dann kam der Schlauch. Er spritzte uns ab und lachte sein tonloses Lachen. Dann, mit einem Mal, lief er davon. Vergaß, den Wasserhahn zuzudrehen. Ich schnappte mir das Ende des Schlauches und spülte vorsichtig die Schaumreste aus meinen Augen. Dann trank ich und reicht den Schlauch an Marita weiter.
    Ich hatte großen Hunger. Das Wasser im Bauch linderte dieses Gefühl von Leere nur für wenige Augenblicke. Wir mussten essen, sonst würden wir in Kürze zu schwach sein, um etwas gegen den Entführer zu unternehmen.
    Der Regen ließ nach, doch der Himmel war weiterhin bewölkt. Es sah nicht so aus, als wenn an diesem Tag noch die Sonne durchkommen würde.
    Irgendwann kam er zurück.. Er schimpfte vor sich hin, wir hörten ihn schon, ehe er um die Hausecke gebogen kam.
    « Du Dummer. Du machst es nur kaputt. Jaja, alles fein sauber. Dummer Junge.»
    Als Thönges näher kam, trat ich ihm entgegen.
    « Du hast vergessen, uns zu füttern.»
    Er erstarrte. Ich sah auf den Knüppel in Thönges Hand. Wenn ich ihn jetzt wütend gemacht hatte, konnte er mich mit einem Schlag vernichten. Aber wir mussten doch essen!
    « Dummer Junge!»
    « Ich bin zu dünn, du hast es selbst gesagt. Wir müssen essen.»
    Thönges schimpfte vor sich hin. Er schien auf sich selbst wütend zu sein.
    « So dumm, so dumm! Wer nicht hören will, kommt ins Loch.»
    Immer dieselben Tiraden.
    Aber er führte uns ins Haus zurück. Wir durften in unser Gefängnis zurück. Immerhin war es hier trocken, aber der Gestank, der uns nach der frischen Luft umso erbarmungsloser entgegenschlug, war überwältigend. Merkte Thönges denn gar nicht, dass die Ausdünstungen schon das ganze Haus verpesteten? Marita hatte mir erzählt, dass ihr Eimer in unregelmäßigen Abständen ausgeleert worden war. Manchmal schien Thönges von einem regelrechten Putzeifer gepackt zu werden. Dann wusch er Marita und kämmte ihr Haar stundenlang. Dann wieder betrat er den Raum, in dem sie sich seit Tagen in den Eimer erleichtert hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie ein Bauer, den der Geruch im Stall seiner Kühe oder Schweine auch nicht störte.
    Wenn man sich eine Weile aufhielt, nahm man die Gerüche tatsächlich nicht mehr wahr. Marita und ich wurden erneut an den Heizkörper gekettet. Thönges ging. Nach einer Weile kam er zurück. Er blickte starr an uns vorbei. Immerhin brachte er einen zweiten Eimer mit Wasser darin, einen Kanten Brot und eine Plastiktüte mit wurmstichigen Äpfeln. Schrumpelig und offensichtlich aus eigener Ernte vom Vorjahr. Oder gestohlen. Ich nahm nicht an, dass Thönges sein Obst im Supermarkt kaufte.
    Es war egal, ich hätte inzwischen wohl beinahe alles gegessen. Wir setzten uns auf die Matratze, brachen abwechselnd kleine Stücke vom Brot ab und aßen. Für jede von uns eine Handvoll Brot und einen Apfel. Etwas später noch einen. Wir mussten uns die Ration einteilen und vor allem abwarten, wie unsere Mägen reagierten. Es wäre Verschwendung, zu viel auf einmal zu essen, nur um es dann zu erbrechen. Kleine Bissen und gut kauen. Es schien zu funktionieren. Nach einer Weile fühlte ich mich besser und das Zittern hörte auf. Wenn wir nur trockene Kleidung hätten! Es würde noch Stunden dauern, bis alles halbwegs trocken wäre.
    Marita und ich redeten leise miteinander. Wir mussten damit rechnen, dass Thönges hinter der verschlossenen Tür lauschte. Wir erzählten abwechselnd von unseren Familien. Dann schwiegen wir eine Weile und untersuchten gegenseitig unsere Halsbänder. Wenn ich davon ausging, dass meines ebenso aussah wie ihres, dann trugen wir beide tatsächlich Hundehalsbänder. Doch wo normalerweise eine Schnalle zum Öffnen und Schließen diente, saß eine Niete. Ich hatte richtig vermutet. Sie ließ sich nicht öffnen, egal, wie sehr wir auch zerrten und zogen. Mir war nicht klar, wie Thönges das angestellt hatte, aber schließlich war ich bewusstlos gewesen, als er mich gefangen hatte. Marita sagte, sie hätte ebenfalls keine Erinnerung daran. Irgendwann gaben wir es auf.
    Stundenlang bewegten wir uns kaum, aber es war trotzdem anstrengend. Ich fühlte mich körperlich wie seelisch vollkommen ausgelaugt.
    Die Angst vor dem, was Thönges als nächstes einfallen würde, war lähmend.

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