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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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und von der Straße abgekommen war. Darum hatte ich nicht einmal mitbekommen, wie sich die aufgeblendeten Scheinwerfer von hinten genähert hatten. Ein großer Lastwagen war offenbar beim Überholen auf unsere Spur geraten. Hedda konnte nichts anderes tun, als auszuweichen. Unglücklicherweise befanden wir uns in diesem Augenblick auf einer Anhöhe, weshalb unser Wagen nicht nur auf den Seitenstreifen rutschte, sondern zudem fast ohne Widerstand das niedrige Begrenzungsmäuerchen überwand und sich dann auf der abschüssigen Böschung überschlug. Der Lastwagen war einfach weitergefahren und bisher nicht zu ermitteln gewesen. Dass Hedda nicht getrunken hatte, jedenfalls nicht mehr als erlaubt, stand bereits fest und die Polizei ermittelte ohne besondere Aussicht auf Erfolg wegen Fahrerflucht und fahrlässiger Tötung. Das hatten die Beamtinnen, die meine Aussage am Krankenbett aufgenommen hatten, einigermaßen unumwunden zugegeben. Wir hatten also beide nichts gesehen, womit man den Lastwagen identifizieren könnte, Und das nächste Fahrzeug war erst Minuten später am Unfallort angelangt.
    „Nora? Ich gehe dann noch zu Hedda hinüber“.
    Ich riss mich zusammen.
    „Ja, ist gut. Dann packe ich mal meine Sachen zusammen, damit ich morgen früh alles fertig habe.“
    Nicht, dass ich allzu viel zu packen gehabt hätte, aber wie meistens hatten Mutter und ich uns nicht allzu viel zu sagen, also gab ich die üblichen Belanglosigkeiten von mir.
    „Ja, dann …“
    Mutter winkte mir zu und wandte sich um, dann war ich wieder allein. Doch anstatt meine Habseligkeiten zusammenzusuchen, setzte ich mich auf das Bett und dachte nach. Die Erinnerungslücke nach dem Arztgespräch irritierte mich immer noch. An sich war es vielleicht gar nicht so wichtig, schließlich taten wir jeden Tag tausend unwichtige Dinge so mechanisch, dass sie sich nicht einprägten, doch dies war anders. Ich war mir dieser Lücke sehr bewusst und dennoch fand ich in meinem Gedächtnis keinerlei Anhaltspunkte. Es war wie der Filmriss nach einer durchsoffenen Nacht. Man wusste, dass einem Minuten oder sogar Stunden fehlten, aber es war einfach weg. In diesem Fall konnte ich mir den Aussetzer einfach nicht erklären. Also war es vermutlich besser, mich nicht weiter damit verrückt zu machen. Ich beschloss, einen Ausflug zum Krankenhauskiosk im Erdgeschoss zu machen und mir etwas Schokolade und eine Illustrierte oder vielleicht ein Buch zu kaufen. Vom Nachmittagsprogramm im Fernsehen hatte ich genug. Am nächsten Tag sollte ich erst nach der Morgenvisite entlassen werden, es galt also, noch ein paar Stunden totzuschlagen. Mithilfe der Süßigkeiten und des neuen Wallander-Krimis vergingen sie schneller als gedacht. Ich las am Abend lange und schlief anschließend fest und traumlos, so dass ich meiner Entlassung am Morgen ausgeruht und gelassen entgegensah. Ich hatte mir bereits zurechtgelegt, wie ich meinen ersten Tag in Freiheit verbringen würde. Sobald das Taxi mich zuhause abgesetzt haben würde, würde ich im Supermarkt um die Ecke ein paar Lebensmittel einkaufen. Ich war ja seit Tagen nicht mehr zuhause gewesen. Außerdem war Silvester, deshalb wollte ich für Hedda und mich ein paar Leckereien einkaufen, vielleicht eine kleine Flasche Sekt, alkoholfrei natürlich. Am späten Nachmittag würde ich mit unserem Silvester-Picknick zurück ins Krankenhaus fahren und versuchen, meine kleine Schwester aufzuheitern. Viel erwartete ich nicht, aber allein lassen konnte ich sie auch nicht. Franka hatte mir eine SMS geschickt und mich eingeladen, den Jahreswechsel mit ihr und einigen Freundinnen zu feiern, doch danach war mir noch viel weniger zumute.
    Die Visite fand gegen neun Uhr statt. Ein Arzt, den ich nicht kannte, stürmte mit seinem Gefolge in den Raum, harrte vielleicht eine Minute an meinem Bett aus und wünschte mir dann auf dem Weg nach draußen flüchtig alles Gute. Das war alles, ich konnte gehen. Die kleine Tasche, die Mutter mir nach dem Unfall mit etwas Wäsche und Nachtzeug mitgebracht hatte, war gepackt. Keine halbe Stunde später steckte ich den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnungstür. Ich war vollkommen außer Atem und hielt keuchend auf dem obersten Treppenabsatz inne - unglücklicherweise war just an diesem Tag der Aufzug wieder defekt – ehe ich den Schlüssel ins Schloss fummelte. Mir graute bereits vor der Vorstellung, dass ich gleich noch einmal hinunter zum Supermarkt musste und anschließend wieder hinauf. Ich war wirklich

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